Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
haben?«
»Aber ihre Enkeltochter?« Sonnenmuschel schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie konnte doch nicht einfach jemanden damit beauftragen, einem Mitglied der eigenen Familie den Schädel einzuschlagen!
Rote Schlinge stammt aus dem Schoß von Muschelkamm. Bei allem, was heilig ist, Ältester!«
»Na, wenn du Okeus noch immer für heilig hältst - dem würde die Idee gefallen. Die wäre tatsächlich ganz nach seinem Herzen. Genau das, was er selbst gern täte.«
»Aber Ältester …«
Jaguar hob Schweigen gebietend die Hand und blickte fest in Sonnenmuschels Augen, die ihre Ungläubigkeit spiegelten. »Du überraschst mich immer wieder, Mädchen - warum nur? Ich dachte, du hättest in den letzten Tagen genug gesehen und gehört und allmählich verstanden, wie Menschen denken und handeln. Ob Jagender Falke das Mädchen töten ließe, um die Unabhängigen Dörfer zu retten? Aber ja doch, auf der Stelle, ohne zu zögern.«
»Woher willst du das wissen?«
Jaguar rieb sich die schmerzende Stirn. »Weil ich es oft genug gesehen habe. Mit eigenen Augen gesehen habe! Erlebt! Mitgespielt habe! Warum, in Ohonas Namen, glaubst du wohl, dass ich mich auf diese Insel in der Mitte der Bucht zurückgezogen habe? Weil ich vor den Ränken floh, in die man verwickelt wird, wenn man zu Amt und Einfluss gelangt. Wenn die Einsätze so hoch sind, dann sind Männer und Frauen wie besessen und verspüren nur noch den Drang, andere zu beherrschen, zu überwachen und zu steuern. Es ist ein schiefes Bild des Lebens, das man vor sich sieht … als ob man vom Grund eines klaren Teichs auf die Welt blickt. Alles ist verzerrt, unwirklich, wie von außen gesehen, aber sehr wirklich von innen. Verstehst du das?«
Sonnenmuschel sah ihn aus blanken Augen an und schüttelte den Kopf.
»Nein, sicher nicht, natürlich nicht.« Jaguar warf angewidert die Hände in die Luft. »Warum habe ich dich am Hals? Du bist so rein und so ehrlich, als kämst du aus Ohonas Schoß. Es bereitet mir Schwierigkeiten, dass du mir so nah bist. Du hast einen schlechten Einfluss für mich.«
»Ich dachte, ich bin dir eine Hilfe, Ältester, indem ich dir den Rücken frei halte. Ich gab dir mein Leben. Was es mich auch kosten mag, ich bin dein …«
»Genug!« Jaguar wehrte ab und suchte in Sonnenmuschels Augen nach einer Spur von Verständnis.
»Ich wollte sagen, dass deine Nähe beginnt, meine Gedanken durcheinander zu bringen.«
»Deine Gedanken?«
»Sonnenmuschel, wenn du nach dem Mörder von Rote Schlinge suchen würdest, du würdest ihn niemals finden. Du bist völlig unfähig dazu.«
»Bin ich das?«
»Das bist du. Redlich und wohlmeinend ist dein Wesen, und es verblendet dich so, dass du die Fehler der Menschen nicht siehst. Nimm deinen Freund Wilder Fuchs. Auf sein Wort hin bist du zu mir gekommen und hast mir deine Seele geboten, um ihm zu helfen. Aber, Sonnenmuschel, ich bin nicht davon überzeugt, dass er das Mädchen nicht getötet hat. Er ist ein Blutsauger. Begreifst du nicht? Er wird bis an sein Lebensende von anderen leben und bei allem, was er tut, immer mittelmäßig bleiben.
Er nimmt alles, aber er gibt niemals etwas zurück.«
Niedergeschlagen flüsterte sie: »Bitte sprich nicht so von ihm, ich …«
»Bei Okeus, dem Unheilbringer, Mädchen! Ist dir denn nicht klar, dass ich deinetwegen die Weroansqua beinahe nicht beschuldigt hätte?«
»Ich kann nicht glauben, dass du es getan hast.«
»Das ist es ja. Ich hätte es eben beinahe nicht getan. Wir führten eine so freundliche Unterhaltung, und du warst direkt hinter mir, und ich wusste, es würde dir unangenehm sein. Und weil ich es wusste, hätte ich es beinahe nicht getan.« Er zuckte zusammen und rieb sich die Schläfen. »Und das stört mich ungemein.«
»Ältester, sie ist unter den Häuptlingen diejenige mit dem größten Ansehen. In jedem Dorf spricht man mit großer Achtung von ihr. Sie hat Nahrungsmittel nach Drei Myrten geschickt, als ich ein Kind war und wir beinahe verhungert wären. Und ebenso in andere Dörfer. Wie oft stellten sich ihre Krieger zwischen uns und den Mamanatowick! Auf ihr Wort hin haben viele Familien des Grünstein-Clans Waisenkinder adoptiert und …«
»Still!« Jaguar hob eine Hand zum grauen Himmel empor. »Mein Leben lang habe ich Ohona um Hilfe angefleht. Und jetzt läuft er mir in meinem Schatten nach.« Er rollte die Augen und seufzte.
»Komm, wir wollen sehen, wie weit Neuntöter mit seiner Befragung gekommen ist.«
Kopfschmerzen kündigten
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