Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
Neuntöter duckte sich schon unter dem Vorhang. »Meine Schwester freut sich, euch begrüßen zu können.«
Jaguar lachte in sich hinein. »Weißt du, ich habe schon Besuche bei Menschen gemacht, wo die Männer Besitzer von Haus und Nahrung waren. Das fand ich anfangs etwas eigenartig. Im Laufe der Zeit bin ich jedoch zu der Einsicht gelangt, dass es auch Vorteile hat.«
Neuntöter blieb nachdenklich stehen. »Ich habe auch schon von solchen Völkern gehört. Habe einige dieser Männer unter den reisenden Händlern getroffen. Aber, sag mir, wenn die Männer alles besitzen und die Clans und Familien eine männliche Erbfolge haben, wie kann ein Mann denn sicher sein, dass seine Kinder wirklich seine Kinder sind? Da muss ein Mann doch eifersüchtig über seine Frau wachen, oder?«
»Glaub mir, das tun sie auch«, erwiderte Jaguar und ging auf die Tür zu. Neuntöters Bedenken wurden sofort zerstreut. Wie es schien, konnte der Alte mit seinem Zauber einen Bären aus seinem Fell schwatzen. Er verströmte die Aura seiner Macht auf liebenswürdige Weise und strahlte Rosenknospe an, als wäre sie eine seiner ältesten und liebsten Freundinnen. Sein warmherziges Lächeln, sein vollendetes Benehmen und sein natürlicher Frohsinn erinnerten den Häuptling an einen Lieblingsonkel.
Jaguar nahm sich von einer Mischung aus gekochtem Kürbis, Sonnenblumenkernen und Walnüssen, als Rosenknospe fragte: »Welches war noch dein Clan, Ältester?«
Er lächelte sie fröhlich an. »Ach, ich glaube nicht, dass du schon von ihm gehört hast. Die Hochbeinigen, weit unten im Süden.«
»Der Clan der Hochbeinigen, Ältester? Ich habe schon von vielen Clans gehört, aber …«
Von draußen rief eine Stimme: »Willkommen daheim, Kriegshäuptling. Hier kommt jemand, der dich besuchen will.«
Neuntöter erstarrte, blickte auf seine Schwester und antwortete: »Du bist hier willkommen, Großer Tayac.« Das war eine glatte Lüge.
Kupferdonner trat geduckt ein, hinter ihm zwei seiner Krieger. Der Mann trug sein Spinnenhalsband und zahllose Kupferketten; sie klingelten wohl tönend bei jedem Schritt. Eine prächtige Bärenfellrobe fiel über seine Schultern. Die gezackten Tätowierungen um seine Augen schienen das flackernde Licht der des Feuers zu spiegeln. Die beiden Krieger blieben an der Tür stehen, reglos und starr, mit gekreuzten Armen.
Kupferdonner grüßte Neuntöter mit einem dünnen Lächeln - dann trafen seine Blicke auf Jaguar.
Der Tayac schien zu schwanken. Sein Lächeln erlosch. Sein Gesicht drückte sprachlose Überraschung aus, dann einen Anflug von Furcht.
»So«, sagte er; seine Stimme wurde leise, und es schwang eine tödliche Drohung darin. »Man nennt dich also jetzt einen Zauberer.«
Jaguars heitere Miene veränderte sich nicht. Er lächelte und leckte sich den Kürbisbrei von den Fingern. Erst nachdem er sich die Finger gesäubert hatte, sagte er: »Wie ich höre, nennen sich dich einen … wie war das? Einen großen Irgendwas.«
»Den Großen Tayac!«, erklärte Kupferdonner drohend.
»Hm.« Jaguar nahm sich eine weitere Hand voll Kürbisbrei, aß ihn und leckte sich anerkennend die Lippen. »Eine fabelhafte Entwicklung. Von Grasmatte zum Großen Tayac.«
»Diesen Namen wirst du nie wieder benutzen.« Kupferdonners Gesicht verdüsterte sich.
Jaguar runzelte die Stirn, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. »Habe ich doch auch nie, wie mir scheint. Man gab auch mir viele Namen, aber Grasmatte war nicht darunter. Darüber bin ich froh. Es war doch schließlich dein Name.«
Kupferdonner kauerte sich vor Jaguar nieder, die Muskeln gespannt, als wollte er ihm an den Hals springen. »Komm mir bloß nicht ironisch, alter Mann! Ich bin nicht mehr der Knabe, den du kanntest. Die Dinge haben sich verändert.«
»Ach, die Dinge verändern sich doch immer, Grasmatte oder Kupferdonner oder wie immer du heißt.
Also gut, du willst Kupferdonner sein, der Große Tayac. Sind doch alles nur Wörter, oder nicht? Du und ich, wir beide wissen, dass tief unter der Haut, in den Muskeln, den Knochen und dem Blut verpackt, die Seele sich nicht verändert.«
»Du machst dich über mich lustig!«
Jaguars Augen wurden hart. »Nein. Nicht, wenn es sich um die Seele handelt. Und was hast du mit deiner getan? Du hast sie maskiert und den Teil, den du vergessen wolltest, mit einem Vorhang abgedeckt.«
Neuntöter beobachtete gebannt, wie der Hass in Kupferdonners Augen glühte.
»Es hat viele Blätterblüten gedauert«, sagte
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