Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
ihnen erstreckten sich die brach liegenden Felder mit ihren verkohlten Baumstümpfen bis zum bewaldeten Hang. Das Lager war nicht weit von den Palisaden entfernt, und sie konnte jede Stimme aus Flache Perle vernehmen. Jetzt waren die Leute offenbar dabei, das Abendessen zuzubereiten. Sie hörte Gelächter und Kinderstimmen, die mit bellenden Hunden schrien. Hölzerne Platten klapperten, ein goldener Feuerschein lag über den Palisaden, und in Sonnenmuschel erwachte die Sehnsucht nach einem Heim und einer Familie. Und nach Wilder Fuchs … ihrem geliebten Wilder Fuchs.
Jaguar summte vor sich hin, als er emsig Holz in die Feuergrube schichtete, die sie in den gefrorenen Boden gehackt hatten. Er sah hinfällig und alt aus. Die zerschlissene braune Decke, die er um die Schultern trug, unterstrich sein graues Haar und die buschigen Augenbrauen.
Sonnenmuschel legte die Hände um ein Knie und lauschte den Geräuschen, die von jenseits des Dorfes kamen. Eulen riefen mit glühenden Augen und glitten über die Baumwipfel. Eulen - die Vertrauten der Nachtwanderer, ihre Begleiter aus dem Tierreich.
»Ältester, darf ich dir eine Frage stellen?«
»Fragen sind gut. Nur zu.« Jaguar legte den letzten Zweig auf den Stapel und holte einen kleinen Keramiktopf mit Glut, den ihm Neuntöter gegeben hatte, aus seinem Beutel. Er verteilte die Glut über dem Haufen und blies hinein, um das Feuer anzufachen.
Sonnenmuschel sagte: »Erinnerst du dich daran, dass du über das Spinnen von schützenden Netzen sprachst? Ich habe es nicht verstanden und immer gehofft, dass du es mir einmal erklären würdest.«
Rauch stieg jetzt aus der Feuergrube. Jaguar blies weiter, und das Holz flackerte auf. Hellgelbe Flammen leckten um die Zweige. Er setzte sich auf, um zu Atem zu kommen. Sonnenmuschel erschauerte in der plötzlichen Wärme. Der Schein drang durch die kahlen Zweige über ihrem Lager.
»Die Menschen suchen immer nach Antworten, Sonnenmuschel,« sagte Jaguar. »Antworten. Sie wollen immer Antworten. Und die sind die schützenden Netze.«
»Die Antworten?«
»O ja.« Er nickte heftig. »Und zwar die von der schlimmsten Sorte. Die absoluten Wahrheiten. Leblos und wertlos, aber absolut. Der Clan ist die Mutter. Das Dorf ist die Familie. Die Welt wurde erschaffen durch den großen Baum, der in den ersten Tagen aus dem Schlamm entstand, bevor er dem Ersten Mann und der Ersten Frau Früchte schenkte. Jungen sind unbekümmerte Krieger. Mädchen sind verantwortungsbewusste Wirtschafterinnen. Wir sind kaum auf der Welt, da werden schon die ersten Fäden gesponnen und um unsere Seelen gewickelt, sie sind die Grundlage unserer Entwicklung.
Aus diesen Netzen könnten viele großartige Dinge entstehen, aber die Menschen zerstören sie, bevor daraus tatsächlich etwas werden kann. Nach einigen Blätterblüten sind diese kostbaren Netze nichts weiter als leere Hüllen.«
Sonnenmuschel zog sich den Federumhang fester um die Schultern und beobachtete, wie der Schein des Feuers die Falten in Jaguars Gesicht ausleuchtete.
»Und was bedeutet das?«
Er lächelte, und die wenigen Zähne in seinem Mund schimmerten im Licht der Flammen orangefarben. »Hör auf, Antworten zu fordern. Vergiss. Mit einem Bauch voller Antworten wachsen dir keine Flügel. Sie wachsen nur, wenn du anfängst, deine Fragen zu erleben.«
»Fragen … zu erleben?«
Jaguar warf einen Ast ins Feuer. Funken stoben in blitzenden Wirbeln auf. »O ja. Wann immer du dir wirklich Zeit nimmst, ein zitterndes Blatt zu beobachten oder einen Stein zu betrachten, der am Grund eines Flusses liegt, dann erlebst du eine Frage. Du verinnerlichst sie in deiner Seele.«
Sonnenmuschel zog die Augenbrauen zusammen. »Du verwirrst mich, Ältester.«
»Hm?« Er schaute auf.
»Welche Frage erlebst du, wenn du ein zitterndes Blatt siehst?«
Jaguar zog die Decke über seine Füße und seufzte. »Du willst eine Antwort von mir haben?«
Sonnenmuschel spürte, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Sie befeuchtete sich die Lippen. »Ja.«
Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Antworten -sie sind keine glänzenden Kiesel, die du ausgräbst, Sonnenmuschel. Sie sind die kühle Luft in deinen Lungen und das warme Blut, das durch deine Adern rauscht. Wenn du deine Fragen erlebst, wahrhaftig erlebst mit ganzem Herzen, dann lächeln dir die Antworten zu, aus jedem Sandkorn und aus jeder Wolke, die am Himmel dahinzieht.
Antworten, mein Mädchen, werden nicht gefunden. Sie werden erlebt wie die
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