Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
Jaguar, »bis ich selbst bereit war, die Vorhänge zurückzuziehen und in die schwarzen Abgründe meiner Seele zu blicken. Ob du wohl jemals den Mut haben wirst, in die deine zu sehen?«
»Ich habe allen Mut, den ich brauche, alter Mann.«
»Wohl gesprochen. Frag einen Feigling, und er wird dir sagen, er habe auch allen Mut, den er braucht.
Oh, deine Bereitschaft, dem Tod ins Auge zu sehen oder dein Leben oder deinen Besitz aufs Spiel zu setzen, ziehe ich gar nicht in Zweifel. Aber so wie ein Quarz viele Flächen aufweist, so ist auch dies nur eine Facette des Muts, Tayac.«
»Großer Tayac!«
Jaguar holte sich mit dem Finger eine weitere Portion Kürbisbrei aus dem Topf. »Ach, ich vergesse das dauernd.«
»Wie habe ich mich nach diesem Tag gesehnt!« Kupferdonner schoss vor wie eine Schlange; seine Hände umklammerten Jaguars Hals. »Ich werde dich zerquetschen wie das Insekt, das du bist, Rabe.
Wenn ich zudrücke, kannst du spüren, wie das Leben aus dir herausrinnt.« Die dicken Finger krampften sich um Jaguars dünnen Hals.
»Nein!« Neuntöter machte einen Satz auf Jaguar zu, der das Gleichgewicht verlor und gegen Kupferdonner fiel. Sonnenmuschel sprang auf die Beine, die Keule hoch über dem Kopf. Sie tänzelte hin und her und suchte die beste Stellung, um zuzuschlagen.
Zu Neuntöters Verblüffung winkte sie der Alte mit einer Hand zurück und machte Kupferdonner ein Zeichen aufzupassen. Als der Große Tayac an sich hinunterblickte, erschrak er plötzlich, und seine Finger lockerten ihren tödlichen Griff. Ein schmaler Knochendolch drückte sich gegen seine Haut.
»Im nächsten Augenblick, Tayac, hättest du deine Seele zu Okeus geschickt«, flüsterte Jaguar heiser und drückte den Dolch auf die Stelle unter dem Brustbein des Angreifers. »Ihr zwei, ihr seid einander würdig. Denk daran, Grasmatte. Töte mich, und ich schwöre dir bei der Seele meiner Mutter, dass ich dich mit mir nehme. Hast du verstanden?«
Hass brannte in Kupferdonners Augen, aber er nickte mit einem Ruck. Jaguar steckte den schmalen Hirschbeindolch in seinen Lendenschurz. Kupferdonner stand da, die Hände noch in Bewegung, als erwürgte er den alten Mann im Geiste. Er warf den Kopf zurück, das hoch gekämmte Haar fiel zur Seite. »Da ist noch eine Menge zwischen uns zu bereinigen, Rabe.«
Jaguar sah ihn melancholisch an und holte sich wieder eine Hand voll Kürbisbrei aus dem Topf. »Das glaube ich auch, Tayac. Aber in der Zwischenzeit frage ich dich: Wäre es nicht besser, du ließest es ruhen? Ein Mann, der in der Asche eines Feuers vom Vortag herumrührt, kann sich leicht die Finger verbrennen.«
Kupferdonner stolzierte zur Tür, gab den erschreckten Kriegern ein Zeichen und duckte sich durch den Vorhang hinaus in die Nacht.
Sonnenmuschel ließ langsam ihre Keule sinken und drückte sie, schwer atmend, an die Brust.
»Heiliger Ohona«, flüsterte sie, »das war knapp.«
Rosenknospe strich sich mit zitternden Fingern über den Hals, und ganz langsam verschwand das Entsetzen aus ihren Augen. Jetzt erst beruhigte sich Neuntöters rasendes Herz.
Jaguar leckte sich die Finger ab. »Rosenknospe, habe ich dir schon gesagt, wie herrlich dein Kürbis schmeckt?«
»Das ist alles, vielen Dank, Krieger.« Jagender Falke winkte Fliegende Fischreuse, sich zu entfernen; er stand auf und beeilte sich, das Großhaus zu verlassen. Der Türvorhang schwang noch eine Weile hin und her.
Jagender Falke tastete geistesabwesend über ihr Kinn und starrte durch das Haus in den Vorraum. Dort saßen die Sklavinnen am Feuer und unterhielten sich leise. Jetzt, da Fliegende Fischreuse gegangen war, standen sie auf und widmeten sich ihren abendlichen Aufgaben.
Es war eine gemischte Gesellschaft; einige stammten aus dem Land des Mamanatowick, andere aus den Conoy und zwei von den Susquehannocks, aus einem Raubzug, der sie weit nach Süden geführt hatte. Sklavinnen, die man gefangen nahm, bezeugten den eigenen Triumph, sie waren eine Trophäe aus einem harten Kampf oder fehlerlos durchgeführten Raubzug. Männer wurden auf der Stelle getötet. Nur Frauen und Kinder, von Natur aus gefügiger, nahm man befangen.
Jagender Falke sah eine Weile den tanzenden Flammen zu. Das sanfte Licht warf einen gelblichen Schein auf die Grasmatten, die an den Wänden hingen, und ließ geisterhafte Schatten über die verrußten Dachstangen über ihr zucken. Versklavung der eigenen Leute war etwas, was sie verzweifelt zu vermeiden suchte.
Statt Wilder Fuchs sicher
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