Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
nur und wollte gehen. Aber auf halbem Weg blieb ich stehen. Ich konnte sie nicht einfach so gehen lassen. Ich musste zurücklaufen und ihr sagen, dass ich notfalls zur Weroansqua gehen und alles tun würde, um sie aufzuhalten.«
Neuntöter hörte die Zurückhaltung in ihrer Stimme. »Und warum hast du es dann doch niemandem erzählt? Als Frau des Clans hättest du auch zu mir kommen können.«
»Ich hätte Mutter wecken und es ihr sagen müssen. Sie hätte es dir oder der Weroansqua zutragen können.« Mit gequältem Blick sah Springendes Kitz auf. »Rote Schlinge hätte mich für den Rest meines Lebens gehasst. Aber ich konnte sie nicht gehen lassen und erlauben, dass sie unseren Clan entehrt. Wir würden alle dafür büßen müssen. Es war nicht recht, dem Grünstein-Clan so etwas anzutun, nicht ihrer Mutter, nicht der Weroansqua.« Springendes Kitz seufzte tief. »Schließlich überlegte ich es mir anders. Ich dachte, an meiner Statt würden der Mann und die Frau sie verraten.«
»Welcher Mann, welche Frau? Hast du sonst noch jemanden dort draußen gesehen?«
Springendes Kitz nickte. »Ich nahm diesmal die Abkürzung hinter dem Haus der Toten und dachte, ich könnte Rote Schlinge noch abfangen, wenn sie ihre Sachen holte. Sie waren im Schatten hinter dem Haus der Toten gleich hinter der Ecke, an der wir gestanden hatten. Aber sie hatten uns nicht kommen hören. Im Schein des Feuers, der sich auf den Palisaden spiegelte, konnte ich ihre schwarzen Umrisse sehen. Sie standen aufrecht und stritten sich flüsternd.«
»Konntest du sie erkennen?«
Springendes Kitz schüttelte den Kopf. »Sie waren wie Schatten vor dem Licht, und ich war zu weit weg. Du weißt, wie lang das Haus der Toten ist. Ich war gerade um die Ecke gekommen.«
»Aber es waren eine Frau und ein Mann?«
Springendes Kitz lächelte wissend. »Als sie aufstanden, waren sie nackt. Sie griffen nach ihren Gewändern wie Leute, die gestört, aber nicht erwischt wurden.«
»Sagten sie etwas?«
»Ich konnte nichts verstehen. Sie stritten, das hörte ich an dem Zischen und Fauchen in ihrem Geflüster. Dann packte der Mann die Frau am Arm, als wollte er sie zurückhalten. Sie riss sich los und sagte etwas zu ihm, was ihn offenbar sehr verletzte; er zuckte zusammen und blieb reglos stehen. Die Gefangenen, die ihr von den Kriegszügen hierher bringt, sehen so ähnlich aus. Er war wie zerstört.«
Neuntöters Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und er zupfte an seinem Ohrläppchen. »Glaubst du, sie standen nahe genug, um dich und Rote Schlinge zu hören?«
Springendes Kitz nickte schuldbewusst. »Deshalb sagte ich Mutter nichts. Die Frau zog sich ihr Gewand an und trat gegen die Decken am Boden, als wäre sie wütend. Dann warf sie dem Mann einen letzten Blick zu. Sie hatte diesen entschlossenen Schritt: gestreckte Beine und die Hände zu Fäusten geballt … herausfordernd würdest du es nennen. Dann wandte sie sich um und ging zielstrebig davon.
Ich dachte, sie ginge zur Weroansqua, um Rote Schlinge zu verraten. In dem Fall brauchte ich mein Versprechen nicht zu brechen; Rote Schlinge hätte mich für einen solchen Verrat bis an mein Lebensende gehasst.«
»Und der Mann?«
»Der stand einfach da und ließ den Kopf hängen.« Springendes Kitz holte tief Luft. »Ich schlich wieder zurück, so wie ich gekommen war. Ich wollte nicht gesehen werden. Es war kurz vor Morgengrauen.« Springendes Kitz senkte den Kopf abermals und starrte abwesend auf ihre Hände.
Ein Mann und eine Frau, die sich hinter dem Haus der Toten liebten? Wer waren sie? »Springendes Kitz, was ist mit den Haaren? Waren seine Haare hochgekämmt wie die vom Großen Tayac oder die seiner Krieger?«
»Nein, Ältester. Er trug die Haare nach der Art unserer Männer. Es war keiner der Krieger vom Großen Tayac.«
Neuntöter zögerte. »Was wenn … Springendes Kitz, war es vielleicht Weidenstumpf?«
»Weidenstumpf?« Sie war verwirrt.
»Könnte er es gewesen sein?«
Sie überlegte und hob dann die Hände. »Das kann ich nicht sagen, Ältester. Es war dunkel. Ich sah nur den Schatten eines nackten Mannes, aber nicht, wie er sich anzog. Ich weiß also auch nicht, welche Kleidung er trug.«
Neuntöter beobachtete, wie der Dampf aus den Kochtöpfen aufstieg. Weidenstumpf hätte eigentlich in jener Nacht auf Wache sein sollen, aber Weißer Otter hatte gesagt, sie hätte ihn mit Kupferdonner davongehen sehen. Hatte Weidenstumpf an den Palisaden vielleicht nur seine Arbeit getan? Den
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