Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
Jaguar saß mit gebeugtem Oberkörper am Feuer.
Sonnenmuschel hockte ihm gegenüber, und ihre Kaninchenaugen registrierten jede Bewegung. Die ersten Sterne leuchteten durch den Nachtdunst.
Die Nacht war friedvoll hier. Nur wenn heftige Unwetter vom Meer her tobten, wurde es manchmal ungemütlich. Jaguars Haus stand jedoch hoch genug und die Sturzbäche konnten ihm nichts anhaben.
Der Feuerschein tanzte über sein Haus, die beiden Schreine und die Zweige der Eiche. Jaguar fischte in seiner Schildkrötenschale nach einer Muschel, öffnete sie mit einem Holzspan und saugte das Fleisch heraus. Seine Backenzähne waren schon vor Jahren ausgefallen, und so war ihm das Muschelfleisch gerade recht. Er zerdrückte es mit dem Gaumen und konnte es dann schlucken.
»Also dann …« - Jaguar wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen - »… an welche Art von Hilfe hast du denn gedacht?« Er hob eine Braue. »Irgendeinen närrischen Zauber oder was?«
Sonnenmuschel zuckte zusammen. »Nein, Ältester. Es geht um meinen Freund, Wilder Fuchs. Er ist vom Tellmuschel-Clan. Sein Vater ist Schwarzer Dorn, Weroanzi von Drei Myrten. Wilder Fuchs ist in Schwierigkeiten. In großen Schwierigkeiten.«
»In welchen denn? Kriegt er keine Frau?«
Sonnenmuschels Gesicht wurde sehr bleich. »N… nein, Ältester. Man glaubt, dass er sie getötet hat…
na ja, ich meine, sie war eigentlich nicht seine Frau, wäre es aber …«
Jaguar blickte sie mürrisch an. »Mädchen, du bist aufgeregt. Ich habe beschlossen, dich nicht zu töten, und wenn du mir keinen Grund gibst, die Meinung zu ändern, werde ich es auch nicht tun.
Einverstanden? Warum erzählst du nicht von Anfang an?«
Sonnenmuschel nickte und zog den Federumhang enger um sich. »Sie hieß Rote Schlinge. Vom Grünstein-Clan. Sie war die Tochter von Muschelkamm und die Enkeltochter von Jagender Falke von Flache Perle.«
»Ja, ja, ich habe von Jagender Falke gehört. Erzähl weiter.« Heiliger Ohona, seit wie vielen Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen? Wie hatte die Sonne auf ihrem glatten, schwarzen Haar geglänzt! Er erinnerte sich gut an ihr warmherziges Lächeln und daran, wie anmutig der Rehfellrock sich um ihre verführerischen Hüften geschmiegt hatte. Sie waren damals Feinde gewesen. Im Grunde, dachte er, sind wir es immer noch.
»Ältester! Wilder Fuchs hat Rote Schlinge geliebt. Sie wollten heiraten. Aber Jagender Falke hatte Rote Schlinge schon Kupferdonner versprochen, dem Großen Tayac.«
Jaguar richtete sich auf, sein Interesse war jetzt geweckt. »Der ist doch so ein Emporkömmling von irgendwoher hinter den Bergen, nicht wahr? Pfeifenstein-Clan, habe ich gehört.« Konnte das möglich sein? Aber nein, das lag Jahre zurück und so weit weg.
»Ja, das ist er, Ältester. Seine Macht und sein Einfluss sind ständig gewachsen. Er hat die Dörfer am Oberlauf vereinigt, Wasserschlange und die Krieger von Steinfrosch besiegt. Manche Leute sagen, er sei nur zum Teil ein Mensch.«
»Möwendreck, Mädchen. Das sagen sie auch über mich.«
»O ja, das … das habe ich auch gehört.« Sonnenmuschel fühlte sich unbehaglich.
»Wo waren wir?«
»Ich hatte erzählt, dass Rote Schlinge vor kurzem zur Frau wurde, und Kupferdonner kam nach Flache Perle, um sie zu holen. Aber sie wollte ihn nicht. Rote Schlinge und Wilder Fuchs waren verzweifelt, Ältester, und er schmiedete einen Plan. Sie wollten sich am Austernsteg treffen und dann gemeinsam fliehen.«
Er bemerkte die gepresste Stimme und sah den Schmerz in ihren Augen. »Das war dir nicht recht?«
Sie hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Ich …«
»Du liebst Wilder Fuchs also auch.«
Sonnenmuschel schwieg.
»Antworte!«
»Ja, Ältester.«
»Gut. Fahr fort!«
Sie holte tief Luft und sagte: »Wilder Fuchs verließ jedenfalls beim letzten Tanz das Fest und paddelte um die Landspitze herum zu der Anlegestelle. Rote Schlinge sollte sich vor der Morgendämmerung davonstehlen und ihn dort treffen. Aber sie kam nicht. Wilder Fuchs wurde nervös und kletterte den Hang hinauf. Dort fand er sie. Tot. Ihr Schädel war eingeschlagen, und man hatte sie einfach dort liegen lassen. Und jetzt glaubt jeder … ich meine, jeder in Flache Perle hält ihn für den Mörder.«
»Ich verstehe.«
»Aber er war es nicht. Ich kenne ihn. Er ist mein Freund. Er hat sie geliebt. Warum hätte er sie töten sollen?«
»Vielleicht hatte sie es sich anders überlegt. Männer töten schon aus
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