Vorzeitsaga 09 - Das Volk des Nebels
bestürmten ihn, bevor er sein Haus erreicht hatte, zischten Fragen und packten ihn am Arm.
Sonnenmuschel starrte ihre Mutter an. Sie hielt sich den Bauch, wiegte sich leicht vor dem Feuer hin und her und weinte lautlos.
Sonnenmuschel ging über den Platz auf Jaguar zu und zwang ihre Knie, sie zu tragen. Vor ihm brach sie zusammen und lauschte ihrem dumpfen, Übelkeit erregenden Herzschlag.
Jaguar sagte: »Neuntöter, können wir unsere Unterhaltung später fortsetzen?«
Der untersetzte Häuptling erhob sich, warf einen Blick auf Sonnenmuschels Gesicht und erwiderte:
»Sicher, Ältester. Ich bleibe in der Nähe.«
Als Neuntöter gegangen war, berührte Jaguar mit leichter Hand Sonnenmuschels Arm. »Du glaubst nur, dass du alles verloren hast«, sagte er. »Aber das hast du nicht.«
»Ich bin ausgestoßen worden, Ältester.« Ihre Stimme klang hoffnungslos.
»Mein liebes Mädchen«, sagte der Alte liebevoll, und seine trüben Augen strahlten, als wären sie von einem inneren Feuer erleuchtet. »Hör mich an! Die Menschen verbringen die meiste Zeit damit, sich in ihrer Seele schützende Netze zu spinnen. Netze mit dem Namen ›Clan‹ oder ›Familie‹ oder ›ich selbst‹. Die meisten klammern sich in ihren Herzen daran, als hinge ihr Leben davon ab. Auf keinen Fall darf in diesen Netzen etwas ausgebrütet werden. Die Menschen haben viel zu große Angst vor dem, was vielleicht dort hervorkriechen würde. Du jedoch hast eben die Gelegenheit gehabt zu sehen, was tatsächlich dabei herauskommt. Wirf sie nicht weg! Flügel sind etwas Wunderbares.«
Sonnenmuschel wollte ihm antworten, ihn fragen, was er damit meinte, aber wenn sie den Mund geöffnet hätte, wäre nur ein grauenhafter Schrei zu hören gewesen. Also schloss sie nur die Augen und nickte.
Zwei
Bei Sonnenaufgang marschierten die Männer, Frauen und Kinder von Drei Myrten geschlossen aus dem Dorf hinaus. Sie trugen eine Okeus-Statue vor sich her, sangen Willkommensgesänge und geleiteten Neuntöter und seine Krieger durch die Palisaden, wo der Duft des Festessens schwer in der kalten Luft hing.
Neuntöter stand auf dem Platz und lächelte verlegen. Er fragte sich, was Schwarzer Dorn bewogen haben mochte, so etwas zu tun. Ein Festessen zu Ehren feindlicher Krieger und ihres Anführers zu geben - dies war nicht die Idee eines Mannes wie Schwarzer Dorn. Der Weroanzi war im Grunde seines Herzens zwar ein gutmütiger Mensch, aber von selbst wäre er nie auf derart schlaue Winkelzüge gekommen.
Schwarzer Dorn baute sich jetzt vor dem großen prasselnden Freudenfeuer auf, den Arm in einem dicken Verband, und rief:
»Okeus, höre meine Worte! Wende deinen Zorn ab von uns. Wir, dein Volk, ehren deinen Namen und begrüßen deine Anwesenheit unter uns. Schau in unsere Herzen und erkenne unsere Tugenden. Wende deinen Zorn gegen unsere Feinde. Wenn du jedoch jemandem Leid zufügen musst, dann lass diejenigen leiden, die unwert sind.«
»Großer Geist, lass die Unwerten leiden«, betete die Menge singend.
Schwarzer Dorn hob den gesunden Arm. »Ich heiße all unsere Freunde und langjährigen Verbündeten willkommen und lade sie ein, unsere Gastfreundschaft zu genießen. Es ist ein Fehler gemacht worden, und nun wollen wir von Drei Myrten guten Willen und Verständnis zeigen und geben dieses Fest in der Hoffnung, dass die letzten Tage vergessen werden.«
Eine junge Frau trat aus dem Haus der Toten; sie trug eine große Schneckenmuschel, deren Inhalt in der kalten Luft dampfte.
Schwarzer Dorn nahm die Muschel umständlich entgegen, hob sie an die Lippen und trank einen großen Schluck von der bitteren Brühe. »Ich biete den heiligen schwarzen Trank meinem Freund Neuntöter.« Er blickte Neuntöter in die Augen und reichte ihm mit dem gesunden Arm die Muschel.
Neuntöter trat vor, nahm das Gefäß und trank von dem heißen Yaupon-Tee. Als die Wärme durch seinen Magen strömte und die elektrische Ladung durch seine Adern fuhr, gab er mit liebenswürdigster Stimme Antwort:
»Meinen Freunden und Clan-Leuten von Drei Myrten sage ich: Wir sind glücklich, dass ihr uns so freundlich Nahrung und Freundschaft anbietet. Die Darbietung des Festessens erinnert uns an die Lehren vom Ersten Mann, der in den Himmel aufstieg, um zur Sonne zu werden, und von der Ersten Frau, die hinaufgetragen wurde, um zum Mond zu werden. Sie waren es, die nach der Schöpfung die Zwillinge Okeus und Ohona lehrten, Gäste mit Nahrung zu bewirten, auf dass ihre Leiber gekräftigt
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