Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
ich werde ihn auch nicht fortjagen!«
Aschenmond erklomm den Hügel und streifte Sperling mit einem missmutigen Blick, als sie an ihm vorbei zum Feuer ging, um sich die Hände zu wärmen. Durch die Türöffnung der Hütte konnte sie den Buntfelsen-Krieger auf dem Fußboden liegen sehen, seitlich, einen Arm von sich gestreckt. Er war noch blutjung. Kaum mehr als fünfzehn oder sechzehn Winter alt. Eigentlich müsste sie ihn kennen, konnte aber momentan weder sein Gesicht noch seinen Namen einordnen. Wahrscheinlich hatte man ihm erst vor kurzem seinen Mannesnamen gegeben, was erklärte, warum sie noch nie von ihm gehört hatte, doch sie hätte gern mehr über seine Abstammungslinie gewusst. Alle Mitglieder des Schildkröten-Volkes waren auf die eine oder andere Weise miteinander verwandt. Er mochte der Sohn des Bruders ihres Onkels sein oder etwas ähnliches. Wenn man zum Beispiel im Wald auf einen Fremden traf, begann man die Unterhaltung stets mit der Frage nach dem Klan, dem der Fremde angehörte. Denn die Abstammungslinie stellte die Grundlage für eine Freundschaft dar.
Sperling ging um das Feuer herum und musterte Aschenmond mit unverhohlener Neugier. Sein rundes Gesicht und die gebogene Nase glänzten von der Feuchtigkeit des Nebels. Erwartungsvoll hob er die Brauen. »Und, was gibt es?«
»Setz dich, Sperling. Ich bringe Neuigkeiten.«
Sperling ließ sich auf dem Baumstumpf auf der gegenüberliegenden Seite der Feuerstelle nieder und richtete den Blick auf Aschenmond. Sie brauchte keine hundert Herzschläge, um zu dem Teil der Geschichte zu kommen, wo es um den Fluch ging, mit dem Sperling angeblich Springender Dachs belegt hatte. Hier unterbrach sie sich, verschränkte die Arme und funkelte ihn wütend an. Feine Nebeltropfen schimmerten auf ihrem Zopf und auf den Schultern ihres Hirschfellumhangs. Hinter ihr schlängelte sich der Rauch der Feuerstellen im Dorf wie träge, blaugraue Schlangen über den Himmel. Vier junge Knaben waren inzwischen aus ihren Hütten gekrochen und trotteten lachend hinunter zum See, um ihre Wasserbeutel aufzufüllen.
Sperling hob die Hand, als wollte er sich verteidigen. »Zunächst einmal sollst du wissen, dass ich Springender Dachs nicht verflucht habe. Die Schwierigkeiten, die er hat, muss er sich selbst zuschreiben. Und weshalb Lahmer Hirsch ihm dieses Märchen aufgetischt hat, weiß ich nicht. Vielleicht befand er sich in einer Notlage und wollte Springender Dachs einen Schrecken einjagen. Wenn diese groteske Geschichte Springender Dachs dazu veranlasst hat zu zögern, und sei es auch nur für einen Moment, hätte Lahmer Hirsch dadurch noch etwas Zeit gewonnen, das Leben seines Volkes zu retten. Zudem hätte so ein Ruch Springender Dachs' Position als Kriegsführer erheblich untergraben. Wer folgt schon einem verfluchten Mann auf den Kriegspfad?«
Aschenmonds Blick war nicht freundlicher geworden. »Und zweitens…« - seine Hand beschrieb eine ungezwungene Geste - »…habe ich dir deshalb nichts von meinem Traum erzählt, weil du dich jedesmal, wenn ich meinen Geisterhelfer nur erwähne, in eine wild gewordene Bestie verwandelst, und diesen Anblick wollte ich mir ersparen.«
»Die meisten deiner Träume waren auch äußerst lächerlich, Sperling. Wäre ich jedoch von diesem in Kenntnis gesetzt worden,, hätte ich auf der Stelle unsere Krieger zusammengetrommelt und sie losgeschickt, um den Buntfelsen-Leuten bei der Verteidigung ihres Dorfes zu helfen.« »Das hättest du getan?« Sperling klang sichtlich überrascht. »Ich dachte, du glaubst nicht an meine Träume?«
Aschenmond kniff drohend die Brauen zusammen. »Erinnerst du dich noch an den Abend, als du den Hügel herabgestürmt kamst, um mir zu sagen, ich solle unsere Krieger anweisen, tausend Pfeile zu fertigen? Du hast behauptet, eine riesige Krähenschar würde unsere gesamte Nussernte wegfressen, und wenn ich nicht unverzüglich …«
»Die Hälfte dieses Traums hat sich bewahrheitet, Aschenmond! Der Krähenschwarm hat tatsächlich den ganzen Himmel verdunkelt. Wie hätte ich ahnen können, dass sie wegen der Käfer gekommen waren, die unsere Bäume zerstörten?«
»Es war ja schließlich dein Traum.«
»Nun, damals war ich noch ein unerfahrener Träumer«, verteidigte sich Sperling lahm. »Ich wusste noch nicht, wie man die Traumbilder deutet. Ich …«
»Wie auch immer«, fiel sie ihm ins Wort und beendete die langatmige Erklärung, die er ihr unterbreiten wollte. »Jedesmal, wenn ich dir glaubte und du
Weitere Kostenlose Bücher