Vorzeitsaga 10 - Das Volk der Masken
schloss ihre Faust fester um ihren Bogen. Sie wusste, dass sie sich seinem Befehl nicht widersetzen konnte. »Wohin soll ich sie bringen, Kriegsführer?«
»Wir werden weiter oben entlang des Pfades unser Lager aufschlagen …«
»Im Norden? Aber unsere Kriegskanus liegen östlich von hier, am Ufer des Leafing Lake.« »Wir kehren nicht nach Hause zurück. Im Morgengrauen werden wir aufbrechen und die Überlebenden verfolgen. Ich will Lahmer Hirsch.«
»Wir haben keine Anweisungen, die Überlebenden aufzuspüren!«, wandte Elchgeweih ein. »Die Anführerinnen haben dir befohlen …«
»Widersprich mir nicht, altes Weib!«, brüllte er lauter als die tosenden Feuer. Das ekelhafte Gejohle der Männer schwoll an. Köpfe hoben sich auf dem Dorfplatz. Springender Dachs ballte die Faust vor Elchgeweihs Gesicht. »Befolge meinen Befehl, oder du wirst die Folgen zu spüren bekommen'.« Er öffnete die Faust und ließ den Blick über den blutgetränkten Dorfplatz schweifen. Ein grausames Lächeln verzerrte seine Mundwinkel.
Dann drehte er sich um und setzte seinen Weg fort. Rotglühende Schatten umtanzten ihn. Elchgeweihs Blick haftete an seinem Rücken, bis Springender Dachs hinter der Kuppe des Hügels verschwunden war. Erst jetzt ließ sie die Luft entweichen, die sie angehalten hatte, und kämpfte ihre maßlose Wut nieder.
Ach, sie wünschte, Blauer Rabe wäre jetzt bei ihr. Er könnte diesem widerwärtigen Treiben ein Ende bereiten. Er würde ihm ein Ende bereiten.
Sie senkte den Kopf und schüttelte ihn resigniert.
Wenn er doch nur ein Krieger geblieben wäre.
Aber dem war nicht so. Er war das Oberhaupt des Dorfes geworden. Eine Tatsache, die sie immer noch seltsam anmutete. Als Junge wollte er unbedingt ein großer Krieger werden, heiraten und viele Kinder haben… so wie sie.
Aber er hatte nichts von alledem getan - obwohl er einige Winter lang ein guter Krieger gewesen war. Ihre Gedanken schweiften ab zu den unbeschwerten Tagen ihrer Jugend, den lauschigen Nachmittagen, wo sie sich auf den saftigen Wiesen in der Umgebung des Wandererdorfes geliebt hatten. Das erregende Gefühl, seine Augen auf ihrem Körper zu spüren, hatte sie süchtig gemacht. Ehrwürdige Geister! Sie hatte Blauer Rabe mit Leib und Seele geliebt.
Ein raues Lachen drang vom Dorfplatz an ihr Ohr.
Elchgeweihs Augen verjüngten sich zu schmalen Schlitzen, als sie sah, wie ein Mann einen toten Säugling in hohem Bogen in die Dunkelheit schleuderte.
Sie schlang die Arme um ihre Brust und drückte die Knie durch. Ihre Gedanken wurden bitter, Hass wallte in ihr auf. Hass, der Springender Dachs galt.
Bald würde sie es nicht mehr schaffen, seinen Befehlen zu gehorchen, obwohl er der Kriegsführer war. Und wenn dieser Zeitpunkt gekommen war, würde sie ihn töten müssen.
Moosschnabel breitete seine Decken unter demselben verrußten, vom Blitz gespaltenem Bergahornbaum aus, unter dem Schädelkappe saß und das Falschgesicht-Kind mit seinem Blick fixierte. Schädelkappe hatte seine Zöpfe aufgeflochten, das schwarze Haar wellte sich jetzt um sein hageres Gesicht und brachte seine große Knollennase noch mehr zur Geltung. Der junge Krieger hockte wie betäubt da, so als hätte ihm jemand eine Keule über den Kopf gehauen. Moosschnabel massierte seinen schmerzenden Rücken und streckte sich dann auf seinen Decken aus. Kurz nachdem sie dem Gemetzel im Buntfelsendorf entkommen waren, hatte ihn ein umherstreunender Hund angegriffen und versucht, ihn in die Kehle zu beißen. Er hatte sich zwar blitzschnell umgedreht, doch der Köter war ihm stattdessen in den Rücken gesprungen und hatte ihn zu Boden geworfen. Zum Glück hatte er sein Messer ziehen und die Bestie töten können, ehe sie noch jemanden ernsthaft verletzte, aber er hatte den ganzen Tag über Blut gepisst.
»Schädelkappe, warum starrst du ihn denn so an?«, fragte er den jungen Krieger verwundert. »Er ist doch nur ein Junge. Mehr nicht. Wenn er so mächtig wäre, wie die Leute behaupten, hätten wir ihn dann gefangen nehmen können, hm? Denk doch mal nach.« Moosschnabel lachte.
Schädelkappe blinzelte nicht einmal. Tiefe Furchen durchzogen seine jugendliche Stirn, und seine dunklen Augen blickten furchtsam.
Moosschnabel kramte in seiner Tasche nach einem Stück Dörrfleisch.
Sie konnten es nicht wagen, Feuer zu machen, denn es war gut möglich, dass ein Überlebender des Gemetzels im Buntfelsendorf ihnen gefolgt war. Das gedörrte Hirschfleisch verstärkte nur seinen Wunsch,
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