VT01 - Eine Wunde in der Erde
die Kinder adoptieren, bis sie in der Lage sind, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.«
Neuerlich Geklopfe, leiser und bedächtiger diesmal.
»Wägen die zu erwartenden Gewinne die Toten auf?«, stellte die Alte eine Frage, um sie sich gleich selbst zu beantworten: »Ich meine, dass es so ist. Mit den mehr als tausend geernteten Maas-Köpfen werden wir die Kassen der Stadt gehörig auffetten. Nachdem wir den üblichen Obolus an den Kaiser entrichtet haben, bleibt Kilmalie ausreichend über, um seinen Bewohnern im nächsten Jahr ein sorgloses Leben zu garantieren. Wir werden eine dritte Dampfturbine anschaffen können, und besonders begabte Schüler erhalten Stipendien, die sie in die Lage versetzen, an einer der Wolkenschulen unter den gelehrtesten professeurs des Weltkreises ihre Ausbildung zu beenden. Die Kinder, so sage ich immer, sind unser größtes Kapital. Geben wir ihnen Wissen, so geben wir uns, der Stadt Kilmalie, eine großartige Zukunft…«
Sie schwafelte weiter, sprach von goldenen Zeiten, die anbrechen würden. Sie alle ertrugen die Ansprache, ohne Ungeduld zu zeigen. So senil die Dorfoberste manchmal wirkte, so umständlich sie oft redete – das Alter adelte sie. Niemals wäre es den Kilmaliern in den Sinn gekommen, ein Widerwort einzulegen.
Fakalusa stieß ihren Stecken ein letztes Mal kraftlos in den Boden. Die Versammlung war somit beendet.
Kinga erblickte Nabuu wenige Reihen vor sich und winkte ihn heran. Der Jüngere verabschiedete sich von seinen Begleitern und kam auf ihn zu.
»Wie geht es Zhulu?«, fragte Kinga.
»Er wird wieder. Die Narbe im Gesicht macht ihn nicht gerade hübscher; sein Ruhm dafür umso mehr.«
»So viel ich weiß, hat der Quarting nie besonders viel Wert auf weibliche Gesellschaft gelegt.«
»Mag sein, aber was kümmert’s mich?« Nabuu streckte sich vorsichtig. Sein nackter Oberkörper war von Prellungen und blauen Flecken übersät. Der Parforceritt durch den Hagelsturm hatte ihm schmerzhafte Blessuren eingebracht.
»Die Erntezeit ist noch lange nicht beendet«, sagte Kinga. »Wie durch ein Wunder wurden die westlichen und südlichen Felder nicht vom Sturm betroffen. Getreide und Früchte müssen rechtzeitig eingebracht werden. Wie sollen wir das schaffen, wenn der Quarting nicht einsatzbereit ist?«
»Wir werden von Hand ernten«, meinte Nabuu. »So wie es in den alten Zeiten üblich war.«
»Dafür fehlen uns Arbeiter. Erst die Maelwoorms erlauben es uns, derart riesige Felder anzulegen, zu hegen, zu bewässern und im Herbst zu ernten. Die großen Dimensionen werden uns nun zum Verhängnis. Wir alle werden weinen, wenn wir nur die Hälfte des Getreides einbringen.«
»Mich wundert, dass Fakalusa kein Wort über dieses Problem verloren hat.«
»Das tat sie deswegen nicht, weil sie weiß, dass ich meine Arbeit erledigen werde«, nuschelte eine schwache Stimme hinter ihnen.
»Zhulu!« Gleichzeitig drehten sie sich um, blickten dem Quarting ins müde Gesicht. »Du dürftest deine Liegestatt noch lange nicht verlassen.«
»Wenn du die Kraft findest, noch in der Nacht nach dem Sturm einer Daam beizuwohnen, werde ich es wohl schaffen, Thotto zur Ernte zu bewegen.« Der Krieger versuchte ein Lächeln. Es misslang ihm gründlich. Die hinter Bandagen und Batzen voll Heilcreme verborgene Wunde reichte von der Schläfe bis fast zum Mundwinkel. Seine sonst schwarze Haut wirkte aschfahl. Er zitterte, hielt sich nur mühsam auf den Beinen.
»Wir können es auch ohne dich schaffen«, sagte Kinga vorsichtig.
»Vor einer Minute habe ich etwas ganz anderes aus deinem Mund gehört.« Zhulu machte eine knappe Handbewegung, schnitt ihm das Wort ab. »Still! Morgen beginnen wir mit der Ernte. Keine Macht der Welt wird mich davon abhalten, Thotto zu führen.«
Er drehte sich um und marschierte steif davon, quer durch die staunenden und ihm ehrfürchtig nachblickenden Kilmalier.
Kinga schwieg so lange, bis der Quarting die Versammlungshütte verlassen hatte. Dann meinte er: »Ich befürchte, wir werden niemals in seine Fußstapfen treten können. Er ist einfach zu… groß.«
»Und wahrscheinlich bald tot, wenn er so weitermacht«, fügte Nabuu düster hinzu.
Sie marschierten hinaus ins Freie. Hinüber zu den Ställen, um Gonho ihre Tiere bewegen zu lassen und sich selbst für die morgigen Arbeiten vorzubereiten.
***
Kinga blickte über die Palisaden hinweg auf die untergehende Sonne. Das Hügelland lag so friedlich da wie ehedem. Kaum etwas deutete darauf hin,
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