VT01 - Eine Wunde in der Erde
dass vor nicht einmal zwei Tagen ein Unwetter getobt hatte, wie es die Bevölkerung Kilmalies seit mehr als zwei Generationen nicht mehr erlebt hatte. Nur der schmale dunkle Streifen im Nordosten, das nunmehr wieder ausgetrocknete Schwemmbett, bewies ihm, dass er nicht geträumt hatte. Das – und all die Prellungen, die ihn bei jeder Bewegung schmerzten.
»Das Land hat sich verändert«, sagte eine raue Stimme hinter ihm.
Sambui, der jüngere Dampfmeister, hatte sich leise genähert. Er trat humpelnd neben ihn und blickte nun ebenfalls übers Land.
»Ich kann keine Unterschiede zu früher erkennen«, widersprach Kinga. Er fühlte sich unwohl in der Nähe des kleinwüchsigen, durch einen Kindheitsunfall am rechten Bein verkrüppelten Gelehrten.
»Die Luft schmeckt anders. Das Grün der Blätter ist dunkler. Die Tiere bewegen sich vorsichtiger. Die Menschen ducken sich, wenn sie den Palisadenzaun hinter sich lassen. Am Feuerberg gehen Veränderungen vor sich… Ich befürchte, es brechen schwere Zeiten für uns an. Der Sturm ist möglicherweise nur der Beginn einer Serie von Unglücken.«
»Lächerlich!« Kinga schüttelte den Kopf. »Du siehst Dinge, die es nicht gibt.«
»Du kennst meine besonderen… Fähigkeiten?«
Ja, er wusste Bescheid. Sambui, der sich während langer Jugendjahre kaum hatte vorwärts bewegen können, hatte aus dieser Zwangslage heraus ein besonderes Gespür für seine Umgebung entwickelt. Oftmals reichte ihm ein einziger Blick, um sagen zu können, dass Dieser oder Jener in Bälde sterben würde, oder dass es an der Zeit war, die Wintersachen vorzubereiten. Sein Gefühl für Dinge, die er nur unter größten körperlichen Anstrengungen sehen und greifen konnte, hatte ihn weithin zu einem gefragten Mann gemacht. Mehr als einmal hatte er den Städtern durch seine Vorhersagen geholfen. In mancher Hinsicht ähnelte er den Kopflesern , die in manchen Teilen von de Roziers Reich bekannt waren.
»Erzähl mir, wie es in der Wolkenstadt ist«, sagte Kinga zögernd.
»In der Stadt des Kaisers?«
Kinga spürte Sambuis nachdenklichen Blick auf sich ruhen. »Ja«, bestätigte er, »ich bin neugierig.«
»Ich dachte, dass sich Woormreiter und Krieger lediglich um ihre Tiere sorgen, um junge Daams, die Ernte und die Sicherheit der Stadt.«
»Willst du mich beleidigen?« Ärgerlich drehte sich Kinga zur Seite, blickte dem Neuankömmling in die Augen. »Beschuldige mich nicht irgendwelcher Dinge, Mann! Du hast doch gar keine Ahnung, woran ich denke, welche Sehnsüchte ich hege.«
»Ich glaube schon, dass ich das weiß.« Sambui wirkte für einen Moment ängstlich, setzte aber gleich wieder eine Maske der Gleichgültigkeit auf. »Aber verzeih mir, du hast natürlich Recht. Ich kann deine Ziele und Wünsche nicht wissen.« Er atmete tief durch und sagte dann: »Die Wolkenstadt ist herrlich. Ein Wunderwerk moderner Tekknik. Du schwebst hoch oben in diesem Gebilde, das von Maschinen und der Handwerkskunst mächtiger Wissender angetrieben wird. Die Menschen kleiden sich in wertvolles Leder, in Samt und Seide. Sie bewegen sich anmutig und sprechen diese seltsame höfische Sprache, derer wir uns nur in seltenen Fällen bedienen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.«
Sambui holte Luft. Er wirkte nun tief in sich selbst versunken. »Jeden Tag kommen die Gelehrten zusammen und diskutieren über die großen Geheimnisse unserer Zeit. Wissenschaftler erzählen einander von neuesten Erfindungen und Entdeckungen. Galante Krieger der Garde stolzieren erhobenen Hauptes über die breiten Planken der Oberstadt. Sie kokettieren in vollendeter Form mit den Prinzessinnen, lassen sich aber niemals zu irgendwelchen Frechheiten verleiten.«
Kinga wagte keinen Widerspruch. Sambui verherrlichte die Dinge, ganz klar. Er hingegen hatte mit Menschen unterer Klassen gesprochen, die an Bord der Wolkenstadt lebten, und ganz andere Dinge erfahren. Solche, die nicht der offiziellen Lesart entsprachen.
Nicht alles, was glänzte, war auch aus Gold, wie er nur zu gut wusste.
»Du möchtest die Wolkenstadt besuchen?«, fragte Sambui schließlich.
»Ich weiß es nicht«, gab Kinga ehrlich zur Antwort. »Kilmalie ist meine Heimat. Ich liebe das Land und will mich nicht auf das Gutdünken irgendwelcher Hofschranzen verlassen. Wahrscheinlich würde ich mich eingeschränkt fühlen, wenn ich dort oben, über den Wolken, leben müsste.«
»Mein ganzes Leben ist Einschränkungen unterworfen«, sagte Sambui ohne Bitternis. »Aber
Weitere Kostenlose Bücher