VT09 - Die tödliche Woge
durch den im nächsten Augenblick eine schlanke, atemberaubend schöne Gestalt den Versammlungssaal betrat.
Prinzessin Marie musterte die Anwesenden mit scharfen Blicken. Es waren alle versammelt, die sie zu dieser Besprechung gebeten hatte. Zu Beginn der Tafel, seitlich neben dem Stirnplatz, der ihr selbst vorbehalten war, befand sich der leere Stuhl Goodefroots. Ihm gegenüber saß Pierre de Fouché, der Sonderbeauftragte für Militärisches von Orleans-à-l’Hauteur. Sein hagerer Körper schien vornehmlich von dem gesteiften Stoff seiner Uniform aufrecht gehalten zu werden, doch wer in den glasklaren Augen dieses Mannes las, ahnte schnell, dass der äußere Eindruck trog. De Fouché war ehrgeizig und entscheidungsfreudig. Zu ehrgeizig, wie Marie insgeheim glaubte. Sie war überzeugt davon, dass er einen Posten in Wimereux direkt unter dem Kaiser anstrebte.
Vielleicht sogar anstelle des Kaisers selbst…
Neben de Fouché wälzte sich Prinzessin Antoinette, Maries Halbschwester, wie ein Walfisch auf dem Trockenen auf ihrem Stuhl. De Fouché und Antoinette hätten äußerlich nicht unterschiedlicher sein können. Dennoch gaben sie ein ganz reizendes Paar ab in ihrer Halsstarrigkeit und Egomanie, mit der sie sich in der aktuellen Krise ausschließlich auf das Wohl der Wolkenstadt konzentrierten und das Schicksal der Dorfbewohner auf der Erde vollkommen außer Acht ließen.
Gegenüber von Antoinette hatte die letzte Teilnehmerin der Runde Platz genommen, auf deren Meinung Marie besonderen Wert legte. Es handelte sich um Doktor Aksela, die Assistentin des verstorbenen Doktor Leguma, unter deren Führung das Anti-Serum gegen die Gruh entwickelt worden war. Während auf den Mienen der anderen Teilnehmer deutlich abzusehen war, dass sich jeder von ihnen bereits im Vorfeld eine feste Meinung über die zu ergreifenden Maßnahmen gebildet hatte, spiegelte Doktor Akselas Miene eine wohltuende Neutralität und Gelassenheit wider. Sie war eine Frau der Wissenschaft und fühlte sich ausschließlich der Logik und Objektivität verpflichtet.
»Wohlan, dann setzt euch«, sagte Marie und ließ sich auf ihrem Platz an der Stirnseite der Tafel nieder. Nur flüchtig streifte ihr Blick dabei die gegenüberliegende schmale Tafelseite, an der sie gern den einzigen Menschen gesehen hätte, dem sie genügend Mut, Entschlossenheit und Integrität zutraute, um in dieser scheinbar ausweglosen Lage die richtigen Entscheidung zu treffen.
Aber dieser Mensch war tot.
Nooga hatte sie zwei Mal vor den Gruh gerettet. Sie verdankte ihm ihr Leben. Mehr als das: Das Schicksal hatte ihnen kaum vierundzwanzig Stunden Zeit gelassen, um sich kennen zu lernen, aber diese schmale Zeitspanne hatte ausgereicht, um Marie das Band erkennen zu lassen, das zwischen ihnen existierte – und das vor wenigen Stunden auf tragische Weise zerrissen war.
Nooga war infiziert gewesen. Gruhkinder, denen Marie und er auf dem Fußweg nach Westen begegnet waren, hatten ihm die Verletzung am Hals zugefügt. Er hatte versucht durchzuhalten, dem Gift zu trotzen. Einige Stunden hatte er es geschafft.
Dann aber, kurz nachdem er zusammen mit der Prinzessin Orleans-à-l’Hauteur erreicht hatte und in Doktor Akselas Labor im Haus der Heiler gebracht worden war, hatte das Gift den Kampf gewonnen.
Nooga war zu einem Gruh geworden, einer blutrünstigen Bestie, die aus dem Labor ausgebrochen war und auf dem Weg durch die Straßen von Orleans ihre Opfer gefordert hatte. Bis Marie ihr Einhalt gebot.
Sie war Nooga gegenübergetreten. Sie wollte ihm in die Augen sehen, wollte sich vergewissern, ob tatsächlich der letzte Rest von ihm daraus verschwunden war. Und tatsächlich: Nooga hatte gezögert, sie anzugreifen. Ein Teil des Gruh schien sich seiner Vergangenheit als Woormreiter Nooga zu erinnern. Ein Teil erinnerte sich an Marie.
Aber dann war die Blutgier stärker geworden. Er hatte sich auf sie gestürzt – und war im nächsten Moment von den Pfeilen der ihn umringenden Gardisten durchbohrt worden.
[3] Noogas Ende war in zweierlei Hinsicht fatal. Neben den Gefühlen, die Marie für ihn hegte, hatte gerade Doktor Aksela gehofft, ihn als Forschungsobjekt für ihr Projekt verwenden zu können. Ein toter Gruh nützte ihr wenig. Gruhleichen waren bereits zur Genüge untersucht worden. Was sie brauchte, war ein lebendiger Körper, in dessen Blutkreislauf sich das Serum befand…
»… hier versammelt in der Absicht, basierend auf den neuen Erkenntnissen einen Rettungsplan zu
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