Vyleta, Dan
dann noch eine, saß zehn
Minuten lang da und hielt die Luft an, die Zähne gegen die Kälte in die Lippe
gegraben. Endlich sprang er auf, wischte sich mit dem Ärmel über das
tränenverschmierte Gesicht und rannte so schnell er konnte die Treppe zur
Wohnung direkt über ihnen hinauf.
Er platzte herein, ohne
anzuklopfen. Sie musste vergessen haben, die Tür hinter sich abzuschließen,
das Holz gab unter seiner Kinderfaust nach, und er stürmte hinein. Staub
wirbelte auf. Er stürzte den Flur hinunter, sie hörte, wie er gegen ihren
Koffer stieß und weiter Richtung Licht lief. Der Trommelschlag seiner Füße auf
ihren Teppichen ließ sie überrascht in ihrem Spiel innehalten. Sie reckte den
Hals, um zu sehen, wer da kam, und als sie das tat, war er auch schon da, blieb
abrupt stehen, die Beine immer noch laufbereit, und verharrte stocksteif mitten
in ihrem Wohnzimmer. Sie nahm den Kerzenleuchter, der neben ihrem
Klavierschemel stand, und hob ihn hoch, um den Eindringling näher zu
betrachten.
Er war ein
hässlicher Kerl, körperlich verkümmert, zwölf, vielleicht dreizehn Jahre alt.
Klein und knochig, mit einem faltigen Gesicht, schiefen Zähnen und Augen, die
wie verrutscht saßen, als wäre da vor längerer Zeit ein Knochen gebrochen, ohne
dass ihn jemand gerichtet hätte. Der Junge öffnete den Mund, um etwas zu sagen,
aber kein Wort kam aus ihm heraus.
»Was?«,
fragte sie und merkte, wie kalt es klang. »Was willst du?«
Er rieb
sich die Augen, es musste Staub in sie geraten sein, die Stimme krächzte ihm in
der Kehle.
»Was?«,
fragte sie noch einmal, befreite ihren Mantel vom Klavierhocker und bereitete
sich innerlich darauf vor, den Leuchter zur Not als Waffe zu gebrauchen. Der
Junge antwortete nicht, und so hob sie die linke Hand und deutete damit ins
Dunkel des Flurs hinaus.
»Dann
geh«, sagte sie, ein Auge auf ihre edelsteinbesetzte Armbanduhr gerichtet.
»Geh, oder du bringst dich in Schwierigkeiten.«
Der Junge
wollte nicht gehen. Stattdessen trat er näher an sie heran, oder besser: näher
an ihre Hand. Erst dachte sie, er wolle ihre Uhr, der kleine Dieb, aber es war
die Hand selbst, die er packte und an die er sich mit seinem ganzen Gewicht
klammerte.
»Bitte«,
hauchte er, als sie gerade beschlossen hatte, ihn mit dem Leuchter zu schlagen.
Sein Blick war auf den Boden gerichtet. »Bitte.«
Er roch
nach Abfall und verbranntem Fleisch.
»Was
willst du?«, versuchte sie es ein weiteres Mal. Der Junge hing immer noch an
ihrer Hand. Sein verdorrtes Gesicht zitterte, er war hässlich wie ein Affe und
spuckte, wenn er sprach, die Stimme unkontrolliert, zu laut für Ort und Zeit.
»Bitte«,
sagte er. »Mein Freund, er ist krank. Sie ... Sie haben ein Klavier. Sie sind
reich. Bitte, retten Sie ihn. Er stirbt.«
Das klang
erfunden, war womöglich eine Falle, und sie wollte einfach nur weiterspielen.
Es war so lange her, dass sie es hatte genießen können, Klavier zu spielen.
»Ich kann
dir nicht helfen«, erklärte sie ihm, und dann: »Lass mich endlich los, du
kleines Biest«, aber seine verdreckten Finger klammerten sich jetzt an ihre
Jacke, rissen daran und drohten die Knöpfe abzureißen. Ein Stiefeltritt
zwischen die Beine befreite sie von ihm und gab ihr genug Zeit, seine Haare zu
packen und ihn zur Tür zu ziehen. Sie war zu schnell für seine Gegenwehr, stieß
ihn hinaus und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Dann stand sie da, keuchend,
und wartete darauf, dass der Kerl sich trollte.
Aber er
blieb.
Mit Händen
und Füßen trommelte er gegen die Tür und drohte das ganze Haus aufzuwecken.
»Bitte«, schrie er, und seine Stimme überschlug sich, und sie stellte sich vor,
wie ihm dabei die Spucke aus dem schiefen Mund flog. Dieser Narr. Der Colonel
musste jeden Moment zurückkommen. Sie wollte sich nicht vorstellen, was er mit
dem Jungen machen würde. Es war nicht abzuschätzen.
»Junge«,
zischte sie durch das Holz. »Sei ruhig. Zu deinem eigenen Besten, sei ruhig.«
Das
Trommeln brach ab. Sie hörte, wie er sich hinkniete.
»Bitte«,
klang es unter der Tür her. Ein schmutziger kleiner Finger drängte halb in die
Wohnung. »Er ist krank.«
»Wer?«
»Mein Freund.«
»Dein Freund?«
»Unten.
Direkt unter Ihnen. Bitte, er braucht unbedingt eine Medizin.«
Sie
öffnete den Mund, um ihm zu antworten, und schloss ihn wieder. Dachte
schuldbewusst an den Arzneikasten, den der Colonel ihr gegeben hatte, und der
jetzt in ihrem Koffer lag, eingewickelt in ihren seidenen
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