Wach (German Edition)
habe. In Wahrheit hätte ich dir von einer Frau erzählen sollen. Diese Frau wundert sich, dass alle so ruhig bleiben beim Dahinleben. Sie wundert sich, dass nicht alles zusammenbricht, weil alle den Dienst quittieren. Sie wundert sich, dass nicht alle aufhören damit: Aufstehen, Anziehen, Essen. Und Arbeiten! Ihre Arbeit ist so grotesk überflüssig. – Und sie leidet unter dem Stumpfsinn, Mutter zu sein, sie leidet unter der Langeweile, tausendmal dasselbe Bilderbuch anschauen, tausendmal dasselbe Spiel spielen, tausendmal Kaufladen und tausendmal Sand in Förmchen füllen. Und bald ist wieder Winter, und weißt du, diese Frau hat Angst vor dem Winter, nicht bloß Unbehagen, sondern echte Angst, und das, obwohl sie aus Russland kommt, denn es ist ja schon im Sommer eine Prüfung, Buddeln, Kaufladen, Bilderbuch, eine einzige Abstumpfung. Früher hat sie viel Geige gespielt, Sonaten und Partiten von Bach, sie hat gut gespielt. Wozu hat sie das gekonnt? Puck und seine Tiere, immer wieder Puck und seine Tiere! Du kennst es sicher nicht, ein altes Bilderbuch, ganz hübsch, auf jeder Seite kommt ein neues Tier dazu; ihr erstes Kind hat es geliebt, ihr zweites Kind liebt es jetzt. Die Frau hat sich Tricks ausgedacht, sie übt sich darin, immer neue Nuancen zu entdecken, Details, die dem abgestumpften Blick zuvor tausendmal entgangen sind. Sie sagt zu sich: Zeige zum tausendsten Mal auf die Eule im Baum, lass dir zum tausendsten Mal den Fuchs hinter dem Busch zeigen, aber versenk dich dabei, versenk dich in die Form der Bärenohren, in den Umriss des Fuchskörpers, betrachte die Dachziegel, die Wolken hinter den Versen, das Muster der Turmfenster in der Ferne, die Bergketten am Horizont, schau auch die Knicke und Risse im Papier an, schau sie dir genau an; und dann denke, tausendmal schon wolltest du das Buch nachts entsorgen, dabei hattest du noch gar nicht alles gesehen, was in dem Buch ist. Und wenn du erst weitergehst, über die Grenzen hinaus: Wer verbirgt sich hinter den Fenstern von Pucks Schloss, was liegt hinter den fernen Bergen, wie geht das Bild nach den Rändern weiter? Da hast du gedacht, du kennst diese Bilder auswendig, dabei sind sie unendlich, und in erleuchteten Augenblicken kannst du der Leere etwas entreißen, sogar einen kleinen Wundermoment. – Aber dann ist sie wieder stumpf und trüb. Sie hat immer Kinder haben wollen, ich glaube, sie hat das gewollt, um nicht so viel ans Sterben zu denken. Nur, seit sie Mutter ist, denkt sie mehr an den Tod als vorher. Jetzt ist sie wirklich in die Zeit geraten, hat sie gedacht, als ihr erstes Kind geboren war, und immer wieder hat sie gedacht, dass selbst dieses kleine Kind, das sie gerade ins Leben gebracht hat, das sie da im Arm hält, dass das eines Tages wird sterben müssen, und vorher wird sein Körper alt geworden sein und sein Geist müde; erst wird alles aufwachsen, dann wird alles einfallen und zerbrechen. Wenn das Kind schlief, hat sie diese Ratgeberbücher gelesen, und da war diese schreckliche Fröhlichkeit, diese ganzen glücklichen Mütter, die Fotos von lachenden Müttern, sie hat bloß immerzu gedacht, die lachen sie aus. Aber am schlimmsten war es, wenn sie Mitleid mit ihrem Baby bekam, Mitleid, weil es leben muss, Mitleid, weil es noch ein langes Leben, weil es das alles noch vor sich hat. Wenn sie so gedacht hat, ist sie vor sich selbst erschrocken. In den ersten Monaten mit ihrem Baby, allein mit dem Baby (der Vater hatte sich längst davongemacht), da ist sie oft verzweifelt gewesen. Einmal ist sie mit dem Kinderwagen am Kanal entlanggegangen, man konnte den Frühling schon spüren, aber sie hat den Abhang zum Wasser hinuntergeguckt und gedacht: Was, wenn der Kinderwagen da runterrollen würde? Und dann hat sie das Baby gesehen, wie es da im Wagen lag, eingemummelt, hilflos, und jedes Mal, wenn sie an das kleine Gesicht denkt, wie es herausschaut, voll Vertrauen, weil es doch keine Wahl hat, muss sie wieder weinen: Dass sie so etwas gedacht hat! Wenn sie nur in die Nähe dieser Erinnerung kommt, weint sie. Schau, sogar ich muss fast weinen. – Und als das zweite Kind kam, alles von vorn. Aber nun war sie schon geübt, nun ging es schon besser. Und heute geht ihr erstes Kind zur Schule und würde sich schämen, so zu jammern, und sie reißt sich am Riemen. Damals, als sie so oft in schwarzen Gedanken war, immer wieder in schwarzen Gedanken, hat sie oft ihr Kind angesehen, es immer wieder angesehen, wie es dagelegen ist und Grimassen
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