Wachen! Wachen!
gurgelte es leise, als der Müll der Nacht fortgespült wurde. In manchen Fällen protestierte er kläglich.
Als das Wasser den liegenden Hauptmann Mumm erreichte, teilte es sich und floß um ihn herum. Mumm öffnete die Augen. Einige Sekunden lang genoß er gedankenlosen Frieden, doch dann traf ihn die Erinnerung wie ein Hammerschlag.
Es war ein ziemlich übler Tag für die Wache gewesen. Man denke nur an Herbert Humpels Beerdigung. Armer Humpel. Er hatte eine der wichtigsten Wächter-Regeln verletzt – eine Regel, die auch jemand wie Humpel nicht zweimal mißachten konnte. Die Folge: Man bestattete ihn im matschigen Boden, während Regen auf seinen Sarg prasselte. Nur die drei überlebenden Mitglieder der Nachtwache – keine andere Gruppe in der Stadt stand in einem so schlechten Ruf – waren zugegen, um ihn zu betrauern. Feldwebel Golon hatte sogar geweint. Armer alter Humpel.
Armer alter Mumm,
dachte Mumm.
Der arme alte Mumm, hier in der Gosse. Aber dort hatte er begonnen. Armer alter Mumm: Das Wasser floß ihm unter den Brustharnisch. Armer alter Mumm: Er beobachtete, wie der restliche Inhalt des Rinnsteins vorbeiquoll.
Wahrscheinlich bietet schich jetzt schogar dem armen alten Humpel ein besserer Anblick dar,
dachte er.
Mal schehen… Nach der Beerdigung war er fortgegangen, um sich zu betrinken. Nein, das schtimmte nicht ganz. Ein Wort, das mit einem ›er‹ endete. Betrunkener. Ja, genau: Er ging fort, um betrunkener zu sein als schonst. Weil nämlich die Welt irgendwie verdreht und falsch war, als schähe man sie durch gesplittertes Glas. Sie gewann erst dann wieder klare Konturen, wenn man sie durch den Boden einer Flasche betrachtete.
Da gab’s doch noch was anderes, oder?
O ja. Nacht. Dienst. Allerdings nicht für Humpel. Brauche einen Neuen. Hat schich nicht schon einer gemeldet? Irgend so’n Hinterwälder. Brief. Ja. Es schtand im Brief. Geschrieben. Ein Bursche ausser Pro… Prowi…
Hauptmann Mumm gab auf und ließ sich zurücksinken. Der Rinnstein gurgelte weiter vor sich hin; es klang mürrisch.
Oben zischten und flackerten die Buchstaben aus Licht im Regen.
F rische Bergluft war nicht die einzige Erklärung für Karottes beeindruckendes Erscheinungsbild. Der Umstand, daß er zwölf Stunden täglich in einer von Zwergen eingerichteten Goldmine gearbeitet und dabei Loren durch die Stollen nach oben geschoben hatte, spielte in diesem Zusammenhang eine nicht unbeträchtliche Rolle.
Er ging gebückt, und auch dafür gab es einen guten Grund. Wer in einer Goldmine von Zwergen aufwächst, die hundertfünfzig Zentimeter für eine völlig ausreichende Stollenhöhe halten, zieht irgendwann den Kopf ein.
Karotte ahnte von Anfang an, daß er anders war. Zum Beispiel hatte er immer ungewöhnlich viele blaue Flecken. Die Vermutungen wurden zu Gewißheit, als eines Tages sein Vater zu ihm kam, von der Taille her zu ihm aufsah und erklärte, entgegen aller bisherigen Annahmen sei er kein Zwerg.
Es ist schrecklich, fast sechzehn zu sein und zur falschen Spezies zu gehören.
»Entschuldige bitte, daß wir dich erst jetzt darauf hinweisen, Sohn«, sagte Vater. »Wir hofften, du würdest es dir irgendwann abgewöhnen.«
»Was denn?« fragte Karotte.
»Das Wachsen. Aber jetzt glaubt deine Mutter – das heißt, wir
beide
glauben –, daß du zu deinem Volk zurückkehren solltest. Ich meine, es ist nicht anständig, dich hierzubehalten, ohne jemanden, der auch nur annähernd an deine Größe herankommt.« Vater zupfte an einer gelockerten Helmniete, ein deutlicher Hinweis auf seine Besorgnis. »Äh«, fügte er hinzu.
»Aber ihr seid meine Eltern!« entfuhr es Karotte verzweifelt.
»In gewisser Weise, ja«, erwiderte Vater. »Doch wenn man die Sache genauer betrachtet und bestimmte Dinge in Erwägung zieht, so muß die Antwort ›nein‹ lauten. Weißt du, es hat was mit den Genen zu tun. Aus diesem Grund wäre es sicher eine sehr gute Idee, wenn du aufbrechen und dir die Welt ansehen würdest.«
»Was? Ich soll euch verlassen? Für immer?«
»O nein! Nein. Natürlich nicht. Du kannst jederzeit zurückkehren und uns besuchen. Aber, nun, ein Junge in deinem Alter, der nur diesen Ort kennt… Es ist nicht richtig. Du weißt schon. Ich meine. Bist kein Kind mehr. Die meiste Zeit über auf den Knien umherzukriechen und so. Das ist nicht richtig.«
»Zu welchem Volk gehöre ich denn?« fragte Karotte verwirrt.
Der alte Zwerg holte tief Luft. »Du bist ein Mensch«, sagte er.
»Was, wie Herr
Weitere Kostenlose Bücher