Wachen! Wachen!
Varneschi?« Einmal in der Woche kam Herr Varneschi mit seinem Ochsenkarren über den Bergpfad, um Dinge gegen Gold zu tauschen. »Ich bin einer von den Großen?«
»Du bist einsfünfundneunzig groß, Junge.
Er
kommt nur auf hundertfünfzig Zentimeter.« Der Zwerg zupfte erneut an der gelockerten Niete. »Wenn du verstehst, was ich meine…«
»Ja, aber… Aber vielleicht bin ich nur ein hochaufgeschossener Zwerg«, wandte Karotte verzweifelt ein. »Wenn es kleine Menschen gibt, so sind doch auch große Zwerge möglich, oder?«
Vater klopfte ihm voller Mitgefühl ans Knie.
»Du mußt dich den Tatsachen stellen, Junge. Auf dem Boden fühlst du dich bestimmt viel wohler als
darin.
Es liegt in deinem Blut. Außerdem ist oben die Decke nicht so niedrig.« Es
besteht sicher nicht die Gefahr, daß du dauernd mit dem Kopf an den Himmel stößt,
dachte Vater.
»Einen Augenblick mal!« Furchen bildeten sich in Karottes Stirn, als er versuchte, konzentriert nachzudenken. »Du bist ein Zwerg, stimmt’s? Und Mama ist eine Zwergin, habe ich recht? Also müßte ich ebenfalls ein Zwerg sein – so ist das nun mal im Leben.«
Vater Zwerg seufzte. Er hatte gehofft, dieses Thema mit aller Behutsamkeit zur Sprache zu bringen, das verbale Ziel im Verlauf mehrerer Monate anzusteuern. Aber jetzt blieb keine Zeit mehr für rücksichtsvollen Takt.
»Setz dich!« bat er. Karotte setzte sich.
»Die Wahrheit ist…«, begann Vater Zwerg unglücklich, als das große und offene Gesicht des Jungen seinem eigenen etwas näher war, »die Wahrheit ist… Wir fanden dich eines Tages im Wald. Du lagst in der Nähe eines Weges im Gras und hast mit deinen Zehen gespielt… ähem.« Die Niete quietschte leise. Der alte Zwerg gab sich einen inneren Ruck.
»Wir fanden auch noch, äh, Wagen. Sie brannten, könnte man sagen. Und dann gab es Leichen. Äh, ja. Tote Leichen. Vollkommen tot. Wegen der Räuber. Es war ein ziemlich strenger Winter, jener Winter, und in den Bergen wimmelte es von… Leuten und so. Deshalb nahmen wir dich auf, und dann… Nun, der Winter dauerte recht lange, und deine Mutter gewöhnte sich an dich, und irgendwie kamen wir nie dazu, Varneschi um Nachforschungen zu bitten. Äh, das wär’s im großen und ganzen.«
Karotte nahm diese Ausführungen gelassen hin, weil er fast nichts davon verstand. Soweit er wußte, war es völlig normal, daß Kinder zur Welt kamen, indem man sie irgendwo im Wald fand. Ein Zwerg durfte erst damit rechnen, daß man ihm 3 die technischen Einzelheiten erklärte, wenn er die Pubertät 4 erreichte.
»Na schön, Paps«, entgegnete er und beugte sich vor, damit sich sein Mund auf einer Höhe mit dem Zwergenohr befand. »Aber weißt du, ich und… Du kennst doch Minty Felsschmetterer, nicht wahr? Sie ist wirklich hübsch, Paps, hat einen herrlichen weichen Bart, so weich wie… Er ist wirklich sehr weich. Wir verstehen uns prächtig, und…«
»Ja«, sagte Vater kühl, »ich weiß. Ihr Vater hat mit mir gesprochen.«
Und ihre Mutter mit deiner Mutter,
fügte er in Gedanken hinzu.
Und dann hat deine Mutter mit mir geredet, und zwar ziemlich lange.
Es ist keineswegs so, daß man dich nicht mag. Du bist ein zuverlässiger Junge, und an deiner Arbeit gibt es nichts auszusetzen. Du wärst sicher ein guter Schwiegersohn. Vier gute Schwiegersöhne. Genau dort liegt das Problem. Außerdem: Minty hat gerade erst ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert. Es ist nicht angemessen. Es ist nicht richtig.
Vater Zwerg hatte Geschichten über Kinder gehört, die bei Wölfen aufwuchsen. Er fragte sich, ob das Oberhaupt des Rudels jemals in eine so schwierige Situation geraten war. Vielleicht führte es den Jungen auf irgendeine abgelegene Lichtung und sagte: Hör mal, Sohn, vielleicht hast du dich darüber gewundert, daß du nicht so haarig bist wie alle anderen…
Er hatte die Angelegenheit bereits mit Varneschi erörtert. Ein guter, verläßlicher Mann. Er erinnerte sich an Varneschis Vater, sogar an seinen Großvater, als er nun darüber nachdachte. Menschen schienen keine besonders hohe Lebenserwartung zu haben. Wahrscheinlich alterten sie schnell, weil sich das Herz sehr anstrengen mußte, um das Blut so hoch hinaufzupumpen.
»Da bist du echt in einer verzwickten Lage, König 5 «, hatte der alte Mann geantwortet. Sie saßen auf einer Bank vor Schacht Zwei und genehmigten sich den einen oder anderen Schluck Branntwein.
»Er ist natürlich ein guter Junge«, erwiderte der König. »Ehrlich und mit festem
Weitere Kostenlose Bücher