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Wachkoma

Wachkoma

Titel: Wachkoma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasmin P. Meranius
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heraus, warf sich ein Handtuch über und lief barfüßig auf Zehenspitzen zur Zimmertür.
    Es war Didier, der ihr lächelnd einen Zettel mit der Aufschrift „Life-Work-Balance-Workshop“ entgegenstreckte.
    „Da sollten wir mitmachen“, sagte er und sah dabei auffallend frisch und ausgeschlafen aus.
    Beata schloss die Tür wieder, mit dem Zettel in der Hand, und musste sich ernsthaft fragen, wieso es nur ihr nach dem letzten Abend so schlecht zu gehen schien. Didier war schließlich noch um einiges älter als sie.
    Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, würde sie tatsächlich sagen, dass er in einer anderen Welt lebte und gestern gar nicht wirklich da gewesen war.
    Bis zum Workshop zur Life-Work-Balance hatte Beata ihren Kater aber überwunden. Auch wenn ihr Kopf noch etwas drückte und sie sich wenig aufnahmefähig fühlte, versprach man ihr, dass sie einiges über den Sinn des Lebens, das Glück und die Erholung erfahren werde.
    Das wurde eingangs zumindest als Ziel herausgestellt.
    „Die Balance zwischen Familie und Beruf zu finden, ist nicht einfach“, betonte der Referent, den Beata noch nicht kannte. Wo Silvester wohl war?
    In einer kleinen Gruppe erzählte man sich gegenseitig aus seinem eigenen Leben, von den Versuchen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die richtige Balance ist, wie sich herauskristallisierte, eine ganz individuelle Entscheidung und – dabei waren sie sich alle einig – der Schlüssel zur Lebensqualität.
    Beata merkte wieder, wie leer sie doch war.
    Der Referent zeigte Lösungen auf, um bisherige, falsche Gewichtungen zu korrigieren, und betonte dabei zwischenmenschliche Werte als grundlegende Bedürfnisse im Leben.
    „Sie müssen herausgestellt werden – wie ein Leitmotiv.“
    Doch Beata konnte kaum drei Werte vorbringen, die nicht aus der Wirtschaftsgesellschaft stammten und mit Leistung zu tun hatten, wo es doch eigentlich Worte wie Liebe, Freundschaft, Gerechtigkeit und Glück sein sollten. Werte, die Beata schon lange nicht mehr pflegte.
    Sie fragte sich still, wer im Leben überhaupt ihr Freund war. Ihre Liebe und ihr Glück. Und es fiel ihr nur ein einziger Mensch ein. Das war ihre Mutter.
    Ein furchtbarer Gedanke.
    Als erwachsene Frau, die bereits seit Jahrzehnten von ihrem Elternhaus losgelöst lebte, sollte noch immer ihre Mutter ihre einzige Liebe sein? Bis dass der Tod sie scheidet? Und wer würde es dann sein?
    Und als ob es nicht schon genug in ihr Herz stach, spürte Beata zunehmend, dass ihr auch so etwas wie Taktgefühl oder Glaubensfestigkeit im Laufe der Jahre verloren gegangen waren. So etwas konnte ihr in ihrer beruflichen Position schließlich als Schwäche ausgelegt und gegen sie verwendet werden und sie vielleicht sogar beruflich ruinieren. Der Konflikt zwischen den privaten Werten und Vorstellungen und denen, die einem im Beruf abverlangt wurden, ließen die beruflichen schließlich irgendwann stärker sein.
    Beata war klar, dass sie diesen Wandel umkehren müsste, wenn Liebe, Gerechtigkeit, Freundschaft und Glück wieder in ihr Leben einkehren sollten.
    „Balance herstellen, in einer Welt, wie sie sein sollte“, fassten die Teilnehmer zusammen, während Beata gedanklich kurz abgetaucht war und erkannte, dass ihre Werte und Normen sich einzig und allein auf Sanktionen reduzierten. Als gäbe es nur Belohnung und Bestrafung im Umgang miteinander und nichts mehr dazwischen.
    Sie besaß berufliche Macht und sanktionierte.
    Ihre alten Normvorstellungen hatte sie längst über Bord geworfen. Sie sanktionierte, feuerte oder erniedrigte, ohne sich dabei schlecht zu fühlen.
    Sie versuchte, sich bewusst an ihr erstes Arbeitsjahr zu erinnern. Als sie andere noch aussprechen ließ. Sie respektierte. Wissend, dass die persönliche Freiheit immer dort endete, wo sie die Freiheit des anderen einschränkte.
    Heute nahm sie ihnen allen die Freiheit: dem Sekretär, den Angestellten, selbst der Putzfrau, und diktierte ihnen förmlich ihr Leben. Dabei konnte sie sich noch recht gut daran erinnern, dass sie das bei ihrem eigenen Chef damals total verabscheut hatte, da er sie als Berufsanfängerin eingeschüchtert hatte und ihr die Entfaltungsmöglichkeit nahm.
    Dieser Umstand wurde dann schnell für sie zum Anlass, einen besonders kurzen und steilen Weg nach oben zu nehmen, um dieser Radfahrermentalität zu entfliehen.
    Sie würde schließlich nicht ihr Leben lang nach oben buckeln wollen und nach unten treten müssen, um vom Fleck zu kommen. Was sie auch nicht tat.

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