Wachstumsschmerz
sehen kann, fühle ich mich so ausgeblutet, dass mir ein reißender Schluchzer entfährt. So furchtbar, dass Flo erschrocken sein Buch sinken lässt und mich verstört ansieht.
Und dann wissen wir wohl beide, was kommt, denn Flo fragt nicht nach, sondern schließt sein Buch (in Ruhe und ein Lesezeichen verwendend), legt es auf seinen Nachttisch und faltet, wie zum Schutz, die Hände vor der Brust zusammen.
»Ich kann nicht mehr«, sage ich. Ich liege immer noch flach ausgestreckt auf dem Rücken, die Arme nah an meinen Körper gepresst, und werde von bockigen, kleinkindhaften Schluchzern geschüttelt. Mir fallen keine Worte ein für das, was mich grad so gewaltsam im Griff hat. Also sage ich noch mal: »Ich kann nicht mehr.«
Flo bäumt sich ein letztes Mal auf. Zaghaft zwar, aber dennoch. Ich kann hören, dass er jetzt auch weint, dass er eigentlich genau sehen kann, wohin wir getragen werden, aber dennoch fragt er leise, vielleicht in der Hoffnung, irgendetwas nur furchtbar falsch verstanden zu haben: »Was kannst du nicht mehr?«
»Das hier. Uns. Dich. Alles. Ich kann nicht mehr.« Und dann schaffe ich es, meinen schlaffen Körper irgendwie auf die Seite zu hieven und Flo direkt anzusehen. Seine Augen sind geschlossen, und die dichten Wimpern liegen wie ein schwerer nasser Samtvorhang auf seinem Gesicht. Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob sie vielleicht so vollgesogen sind, dass er die Lider nicht mehr heben kann, aber dann öffnet Flo die Augen und sieht mich direkt an. Und obwohl es mir das Herz brechen sollte, in diese geröteten und dadurch nur noch ungleich blauer erscheinenden Augen zu sehen, lässt es meine Beklemmung nur noch zunehmen. Ich spüre einen unbändigen Fluchtinstinkt, an dessen aktiver Ausübung mich nur mein kraftloser und paralysierter Körper hindert. Flo weinen zu sehen berührt mich nicht. Macht mich eher wütend. Stößt mich ab.
»Und nun?«
Ich weiß nicht, ob mich tatsächlich dieses wiederholte Weitergeben einer Entscheidung, der Verantwortung, zum Überlaufen bringt oder ob ich einfach von den bereits ausströmenden Fluten mitgerissen werde. Hätte ein letzter Kraftakt, eine Bitte, ein Flehen, ein Vorschlag tatsächlich noch etwas an dem, was ich sagen muss, geändert?
»Ich kann nicht mehr mit dir. Jedenfalls jetzt nicht. Ich brauche Zeit ohne dich«, sage ich und ärgere mich über das affig Mystische, das diese Worte mit sich bringen.
»Was bedeutet das?«, fragt Flo so leise, dass ich ihn kaum hören kann. Er hat Angst vor seiner Frage. Vor mir.
»Ich weiß es nicht. Aber jetzt grad kann ich dieses kaputte Wir nicht mehr ertragen. Ich brauche Abstand. Um es besser einschätzen zu können. Ich brauche Luft.«
Das abgedroschene Drama meiner Sätze macht, dass ich Kotzen möchte. Wo sind denn die ganzen richtigen Worte geblieben? Oder gibt es für bestimmte Situationen, Gefühlszustände tatsächlich nur diesen begrenzten Wortschatz? Damit man sich bloß nicht falsch verstehen kann?
»Können wir nicht noch mal in Ruhe darüber reden?« Flos Augen sehen mich erschrocken an. Als hätte ich ihn wirklich überrascht.
»Was gibt es denn noch zu reden? Was hätte ich denn noch zu sagen, was du nicht schon tausendmal gehört hättest? Und vor allem: Was hättest du denn noch Neues zu sagen?«, frage ich, heftiger, als es sich die Situation erbeten hätte, wenn sie gekonnt hätte.
»Ich weiß nicht …«
»Genau! Du weißt nicht! Und weißte was? Ich weiß auch nicht! Wir drehen uns im kleinsten Kreis der Welt! Und wir drehen uns so sehr, dass mir ganz schwindelig ist. Dauernd. Ich muss hier raus. Ich werde sonst verrückt!« Und als ich es sage, wird mir einmal mehr deutlich, dass es stimmt. Dass mir schwindelig ist und dass ich wirklich Angst habe, verrückt zu werden.
»Ich brauche eine Pause. Lass uns vielleicht drei oder vier Wochen getrennt verbringen. Uns ausruhen, ein wenig runterkommen und dann mit klareren Augen auf das
Wir
sehen.«
»Weshalb so lange?«, fragt Flo, und seine Wimpern sehen aus, als müssten sie beim Blinzeln das Geräusch feuchter Badelatschen machen.
»Weil kürzer nichts wert ist. Nicht genug, um nötigen Abstand zu gewinnen.«
Und dann gibt Flo auf. »O.k. Wenn du meinst. Ich denke, ich kann solange bei Arne unterkommen. Thea ist ab nächste Woche am Niederrhein, weil ihre Mutter da wohl grade hingezogen ist und ein bisschen Hilfe beim Einrichten braucht und wegen der Trennung von ihrem zweiten Mann wohl grad nicht so gern allein
Weitere Kostenlose Bücher