Wachstumsschmerz
ist. Dann sollte es eigentlich kein Problem sein, solange bei Arne zu wohnen. Die haben ja eh eine große Wohnung.« Und während Flo seine ganze Angst wegbrabbelt, schließe ich die Augen und atme tief ein.
» D u kannst unmöglich mit diesen Schuhen laufen!«
»Machst du Witze? Jeder Zweite in dieser Stadt läuft mit diesen Schuhen, weshalb sollte ich das nicht können?«
Rieke sieht auf meine Füße, als wären sie eine überfahrene Weinbergschnecke: »Das sind Chucks!«
»Nein! Echt? Fuck. Ich dachte, ich hätte die guten Louboutins an! Natürlich sind das Chucks.«
»Du kannst mit diesen Schuhen nicht laufen.«
»Das sind Turnschuhe, these boots are made for walking, Ma’am!«
Rieke steht auf und geht in ihre Küche. Das sind etwa anderthalb Meter Weg in ihrer winzigen Wohnung. Wie eine ältere Dame schüttelt sie dabei den Kopf.
»Willst du Tee?«
»Ich weiß nicht, kann ich denn damit laufen?«, frage ich und zünde mir eine von Riekes fair getradeten Zigaretten an.
»Leck mich«, sagt Rieke, macht den Wasserkocher an und hängt Teebeutel in zwei Becher.
Eigentlich sind wir zum Joggen verabredet. Beziehungsweise zum Joggenlernen. Meine schlaue Schwester hat gesagt, dass ich mich zu wenig bewege, was stimmt, mir aber körperlich gesehen vollkommen egal ist. Seelisch gesehen würde mir Bewegung aber auch guttun (sagt Jana), daher habe ich mich für diese einfache und kostenfreie Form der Bewegung entschieden.
Meine ersten Joggingerfahrungen habe ich vor zwei Jahren gesammelt. Immer heimlich beeindruckt von der Leichtigkeit, die laufende Menschen ausstrahlen, von der Idee, dass man Musik hören und die Umgebung genießen kann (zumindest sagen das immer alle laufenden Freunde), und von dem scheinbar unkomplizierten, nicht unlässigen Bewegungsablauf, hatte ich mir irgendeine Hipster-Sporthose von Flo angezogen und bin in einen nahe gelegenen Park gefahren (!), das Gesicht ganz »kann ja nicht so schwer sein«.
Obwohl ich so langsam gelaufen bin, wie es mir möglich war, ohne in Walking zu verfallen, schmerzte meine Lunge bereits nach zweihundert Metern, und ich bekam krebsrote Arme. Ich machte die Parkrunde von etwa siebenhundert Metern noch taumelnd voll, aus Angst, andere Jogger oder Parkbesucher könnten sehen, wie ich nach einem knappen Drittel bereits wieder abbreche, und bin dann mit eingeklemmtem Schwanz wieder nach Hause gefahren.
Dass mir jetzt ausgerechnet Rieke das Laufen beibringen will, verblüffte mich ein wenig. Ich hatte überhaupt nicht auf dem Schirm, dass Rieke so ein Pro ist, was Joggen angeht. Meine zarte, schlaue und eher introvertierte Kunst-Freundin, die sich immer ein wenig zu nahe an der Grenze zur Misanthropie bewegt, deren heimliche große Liebe der vollkommen zerstörte Pete Doherty ist und die sich leidenschaftlich über den »Magerwahn der Stars« aufregen kann, joggt! Professionell!
»Alles klar, Maus. Dann sag mir, warum ich mit Chucks nicht joggen darf!«
»In erster Linie weil sie keinerlei der Sache zuträglichen Eigenschaften besitzen. Ein guter Laufschuh muss stützen und dämpfen und eventuelle Fehlstellungen deines Fußes berücksichtigen.«
»Wow. Hast du tatsächlich grade ›der Sache zuträgliche Eigenschaften‹ gesagt?«
»Lu, willst du jetzt Laufen lernen oder nicht?«
»Warum sagst du eigentlich immer laufen statt joggen?«
»Vergiss es.«
»Ist Joggen zu sehr Mutti-Style?«
Rieke wendet sich genervt ab und rührt den Zucker in meinem Tee besonders lange um.
»Ich hab dich lieb!«, sage ich, gerührt von dieser Geste. »Du hast sehr viele der Sache zuträgliche Eigenschaften!«
Jetzt muss sie doch auch ein wenig schmunzeln, was schön aussieht und sehr selten ist. Rieke schmunzelt fast nie. Sie hält sich selten mit Zwischenstufen auf. Was irgendwie erklärt, warum sie eben nicht nur ein wenig joggt, sondern läuft. Mit dem richtigen Schuhwerk und der nötigen Ahnung.
»Da ich jetzt ja nicht die richtigen Schuhe dabeihabe, müssen wir das Laufen verschieben, was?«, frage ich in meine Tasse.
»Na ja, fürs Erste ginge es auch ausnahmsweise mit Chucks.«
»Wirklich? Ich bin jetzt ein wenig besorgt. Stützende und dämpfende Eigenschaften sind mir schon enorm wichtig!«
Rieke zieht beide Augenbrauen hoch, was ihr einen außerordentlich kritischen, nicht unattraktiven Blick verleiht: »Du hast keine Lust.«
»Doch! Ich habe wirklich ganz besonders große Lust, aber das Risiko, im Rollstuhl zu landen, weil ich Chucks trage, ist mir einfach
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