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Wächter des Mythos (German Edition)

Wächter des Mythos (German Edition)

Titel: Wächter des Mythos (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Saurer
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oben starrenden Publikums allmählich wieder zur Ruhe kam.
    Über die Jahrhunderte hinweg war es schon viermal zu Unfällen gekommen. Es war Katarina von Aragon, die 1499 Zeugin wurde, als der Bota-Fumeiro durchs Südportal auf die Plaza de las Platerias stürzte.
    Die Show mit dem Weihrauchkessel war vorbei, die Messe nahm ihren Verlauf, dann verließen die Gläubigen ihre Bänke und strömten dem Ausgang zu. Alina und Sandino blieben so lange sitzen, bis der Hauptstrom der Menschen an ihnen vorbei war. Dann erhoben sie sich und mischten sich unter die zahlreichen Besucher, die sich in der Kirche von dem unerschöpflichen Prunk berauschen ließen.
    Auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen folgten sie den Besuchern zum Grab des Heiligen Apostel Jakobus und auf den Hochaltar über dem Grab. Fortwährend musterten sie aufmerksam jedes Detail, doch da war nichts wirklich Aufregendes zu entdecken.
    In Stuck, Gold und Marmor sahen sie überall die Jakobsmuschel, Sterne und das schwertförmige Santiago-Kreuz. Irgendwann setzte sich Alina enttäuscht und resigniert auf eine Bank neben einer Säule. Ihr Blick wanderte wieder hinauf zum Deckengewölbe, wo sich das hereinströmende Licht im Zwielicht des Kirchenschiffs brach, das nüchtern und erhaben von den steinernen Säulen getragen wurde. Dann fiel ihr Blick auf den kalten Stein und blieb dort für einen Augenblick irritiert kleben.
    Ungläubig folgte sie mit ihren Augen dem Säulenschaft aus massivem Stein, und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie konnte es nicht fassen: Überall um sie herum tauchten die geheimnisvollen Zeichen aus dem nackten Stein auf! Überall waren sie zu sehen, tief in den kalten, nüchternen Stein geritzt. Zahllose Zeichen in absonderlichen Formen waren in Wänden und Säulen in den Stein gemeißelt und tanzten vor ihren Augen. Einige erkannte sie als jene auf dem Kelch ihres Vaters.
    »›Vor der Wahrheit muss das Zeichen, vor dem Licht der Schatten weichen‹ …«, flüsterte Alina benommen.
    Von all den zahlreichen Menschen schien nur sie diese Zeichen zu beachten, alle anderen Augenpaare waren nur auf das Blendwerk von Prunk und Macht fixiert. Alina hatte nicht bemerkt, dass sie aufgestanden war und mit zitternden Fingern den Vertiefungen im Stein folgte. Ihre Augen füllten sich unweigerlich mit Tränen, die ihr bitter über die Wangen liefen.
    All die Erfahrungen und Erlebnisse der letzten Tage begannen sich in ihren Gedanken zu einem Bild zusammenzusetzen: Mikrokosmos und Makrokosmos, Irdisches und Überirdisches, Leben und Tod, Weibliches und Männliches kreisten in Spiralen vereint um das Zentrum einer Achse, analog der a xis mundi , die als Ganzes die Einzelteile vereinte.
    Dieses Sinnbild kündete vom irdischen und himmlischen Frieden, von einem neuen Dasein in einem neuen Menschenreich. Denn Leib und Seele, Welt und Kirche, Natur und Gnade waren schon immer in die Verantwortung des Menschen gestellt. Daher waren die Worte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht nur Ausdruck der französischen Revolution, sondern auch der Kern der Templer-Botschaft, das Herzstück ihres Evangeliums.
    Für einen Moment öffnete sich ihr dieses Fenster. Die bizarren, tief in den nüchternen Stein geritzten Zeichen sprachen zu ihr in einer Sprache, fern von Blendwerk, Prunk und Macht, die nur sie verstand. All das erfüllte sie mit einer tiefen Freude und Ehrfurcht.
    Sandino war Alinas Entdeckung nicht entgangen, seine Blicke waren ihr fassungslos und entrückt gefolgt. Dann schrie alles in seinem Inneren nach Alarm. Er stürzte auf Alina zu, um sie von den Zeichen an den Wänden und Säulen zu reißen, doch es war schon zu spät, sie hatten sich verraten.
    »Folgen Sie mir!«, sagte die Stimme eines stämmigen Tiraboleiros, der plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Hinter ihm erschienen noch zwei weitere.
    » Folgen? « Sandino stieß ein bitteres Lachen aus. »Vielleicht erklären Sie uns erst, was Sie von uns wollen.«
    »Sie werden erwartet.« Der Tonfall des Mannes war barsch, ein krasser Gegensatz zu Sandinos kultiviertem Benehmen.
    »Ich denke, da täuschen Sie sich«, sagte Alina kühl, »wir haben uns jedenfalls mit niemandem verabredet.«
    »Folgen Sie mir!«, sagte die Stimme des Tiraboleiros nun drohend.
    »Nennen Sie uns nur einen einzigen Grund, weshalb wir Ihnen folgen sollten«, gab ihm Sandino ruhig zur Antwort.
    »Wenn Sie uns jetzt nicht sofort freiwillig folgen, werden Sie keine Gelegenheit mehr

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