Wächter des Mythos (German Edition)
Planeten Venus hinter sich gelassen und waren auf dem Weg zur Sonne, als nach einer Biegung am Ende des schmalen Stollens Licht zu erkennen war. Darauf betraten sie einen gewölbten Raum, von Fackeln erhellt, die links und rechts in den Mauern verankert waren. An der Wand vor ihnen war hinter einem Altar eine eindrucksvolle Wandmalerei zu sehen. Ein großes geflügeltes Wesen mit zwei gekrönten Köpfen war dort mit weiblichen wie auch männlichen Merkmalen abgebildet. In der rechten Hand hielt es einen Kelch mit drei Schlangen, in der linken eine Schlange mit großem Kopf.
»Der Androgyn !«, entfuhr es Alina.
»Erstaunlich, den scheint seine Zweigeschlechtlichkeit ja geradezu stolz zu machen. Ich hatte mir einen Zwitter jedenfalls anders vorgestellt«, scherzte Gabriel.
» Zwitter? Bei dem hier geht es um ein geeintes Wesen, also etwas, dass außerhalb unserer Vorstellung liegt und hier Gestalt annimmt. Eine Darstellung der zur Ruhe gekommenen Gegensätze und der drei Erscheinungsformen der Einheit.
Guck doch mal genau hin! Als symbolischen Beweis hält das Wesen den Kelch mit den drei Schlangen in seiner rechten Hand. Und in seiner Linken ist die zur Einheit gewordene Dreieinheit in Form der geeinten Schlange zu sehen. Merkwürdigerweise kommt mir bei der Darstellung des Androgyn Logion 22 aus dem Thomas-Evangelium in den Sinn:
›WENN IHR AUS ZWEI EINS MACHT,
UND WENN IHR DAS INNERE WIE DAS ÄUßERE MACHT,
UND DAS ÄUßERE WIE DAS INNERE,
UND DAS OBERE WIE DAS UNTERE,
UND WENN IHR DAS MÄNNLICHE UND DAS WEIBLICHE
ZU EINEM EINZIGEN MACHT,
SODASS DAS MÄNNLICHE NICHT MEHR MANN
UND DAS WEIBLICHE NICHT MEHR WEIB IST,
WENN IHR MIT NEUEN AUGEN SEHT,
UND MIT NEUEN HÄNDEN HANDELT,
UND MIT NEUEN FÜSSEN GEHT,
UND EIN NEUES BILD AUS EUCH MACHT,
DANN WERDET IHR IN DAS REICH EINGEHEN.‹ «
»Die Übereinstimmung ist in der Tat erstaunlich. Thomas-Evangelium und Alchemie? Da hat irgendein archaisch-kultischer Brauch die Sintflut überlebt. Nun Alina, ich kann mich gut an deinen letzten Vortrag über Jesus den Therapeuten und seiner hellenistisch-philosophische Bildung erinnern. Könntest du für mich jetzt bitte auch die Bedeutung des soeben erlebten Mysterienspiels kurz zusammenfassen?«
Gabriel sah sie herausfordernd an, während Alinas Blick hilfesuchend am Altar klebten. Unerwartet offenbarte sich ihr das Ornament am Altar wie eine mathematische Formel. Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, das nun einen Hauch von Erkenntnis verriet.
»Also!« begann Alina und rückte wie eine Dozentin ihre Brille zurecht. »Zunächst geht es beim Dreieck um die dreifache Natur der Einheit, die in ihrer polaren Form das Gespalten- oder auch Getrennt-Sein des Menschen symbolisiert. Im Hexagramm werden dann diese polaren Gegensätze zu einer neuen Einheit, in der die Überwindung der Dualität und die Harmonie im Universum und im menschlichen Handeln zum Ausdruck gebracht werden. Auf diese Weise stellt das aus den doppelgesichtigen Dreiecken geformte Hexagramm-Diagramm die innere Wandlung von der weltlichen zur göttlichen Einheit dar. Es wird damit zum Zeichen des ganzheitlichen dreieinigen Gottheitsmenschen, der weder weiblichen noch männlichen Prinzipien unterworfen ist. Dasselbe, was hier im Ornament am Altar mit einfachen grafischen Formen demonstriert wird, verkörpert die bildhafte Darstellung des Androgyns hinter dem Altar.«
Während Alina innehielt, um Luft zu holen, klatschte Gabriel laut Beifall.
»Ausgezeichnet!«, rief er begeistert und lehnte sich mit vorgetäuschter Lässigkeit an den Altar.
Sie lächelte.
»Glaub mir Alina, das hast du gut gesagt.«
»Tut mir leid, Gabriel, aber der Vortrag ist noch nicht beendet.«
»Wirklich?«, sagte er beinahe enttäuscht.
Alina verbeugte sich kurz und fuhr mit ihrem Vortrag fort: »Der ganze Mythos dreht sich also um den Geschlechterdualismus und erklärt das Zusammenwirken von männlichen und weiblichen Elementen als Einheit im Universum. Bereits im antiken Griechenland wurde die Androgynie, die Vereinigung des männlichen und weiblichen Teils in einer einzigen Person, als Ausdruck der Vollkommenheit verehrt. Im Thomas-Evangelium kommt dieses wohl hellenistische Gedankengut wieder zum Ausdruck.«
»Wenn Jesus wirklich in Alexandria war, dann wäre seine griechische Prägung ja nicht weiter erstaunlich. Außerdem werden im Christentum geschlechtslose Engel auch heute noch als göttliche Idole verehrt«, entgegnete Gabriel lebhaft. »Ich denke
Weitere Kostenlose Bücher