Wächter des Mythos (German Edition)
da zum Beispiel an Michael Jackson.«
Alinas Augen blitzten auf, dann fuhr sie in leicht spöttischem Tonfall fort: »Was diese geschlechtslosen Engel betrifft, so hat es Michael Jackson ja nicht mal mit chirurgischer Hilfe geschafft, zu einem geschlechtslosen Wesen zu werden. Und bei Grace Jones reichten auch der geschorene Kopf und die maskuline Kleidung nicht aus.«
»Tja, dennoch ist die Vorstellung des Androgyns als weltlicher Archetypus nach wie vor durchaus exotisch.«
»Mag sein. Den Geschlechtsdualismus hat Michael Jackson jedenfalls nicht überwunden.«
Ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck wurden jetzt ernst, als sie unbeirrt fortfuhr: »Dieses Wesen da vorn ist als Übermensch zu verstehen, das die innere Wandlung zur Einheit vollzogen hat. Es repräsentiert die Ganzheit des Menschen, jenseits der Geschlechtertrennung. Als geeintes Wesen ist es aus den drei Prinzipien erschaffen; Geburt, Leben und Tod spiegeln seine Wesensart.
Deswegen erkennt es, dass der Mensch sowie die gesamte Existenz der Welt den gleichen Grundsatz in sich selbst enthält. Und es weiß, dass das Prinzip der Dreieinheit so umfassend und ausgedehnt ist wie die Welt. Daher verkörpert es die Mutter als den weiblichen Aspekt, den Vater als den männlichen Aspekt und das Kind als den Aspekt seines sich entwickelnden Selbst. Psychologisch gesehen geht es um die Einheit von Bewusstem und Unbewusstem in einer neuen Persönlichkeit, in der beide Pole gleichberechtigt sind.«
»Das haben Sie gut erklärt, Alina«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Als beide erschrocken herumfuhren, stand Felipe vor ihnen.
»Es tut mir leid, dass ich hier so unangemeldet erscheine. Doch wie ich sehe, haben Sie ja schon gefunden, wonach Sie suchten. Daher kann ich Ihnen jetzt auch meine Hilfe anbieten, ohne den Wunsch Ihres Vaters zu missachten.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Alina erstaunt.
»Es war der ausdrückliche Wunsch Ihres Vaters, Sie ohne meine Hilfe nach dem Kelch suchen zu lassen. Er war der Meinung, es sei an der Zeit, Sie in die alchemistischen Mysterien dieses Hauses einzuweihen.«
»Sie meinen doch nicht etwa, mein Vater wollte , dass ich alleine durch dieses Gruselkabinett gehe? Dass ich alleine diese Zeitreise durch die Geschichte der Hölle unternehme?«
»Nun, Sie kennen Ihren Vater. Doch psychologisch gesehen kommt eine Reise in die Hölle auch immer einer Reise durch die Schattenseiten der Menschheit gleich, und dass es sich bei einem solchen Ausflug nicht wirklich um einen Vergnügungstrip handelt, sollte Ihnen ja bewusst gewesen sein.«
»Sie haben wirklich Humor, Felipe«, entgegnete Gabriel konsterniert.
»Na ja, diese Unterwelt hier scheint Ihnen vielleicht nicht zu behagen, doch Alinas Vater war anderer Meinung. Für ihn kam dieser alchemistische Initiationsweg in der alten Salzmine dem Mythos um Gral und Templer schon sehr nahe. Im Ritus oder der Heiligen Hochzeit dreht es sich oft um das Bewusstsein, dem immer beide Pole einer Persönlichkeit innewohnen. Demnach besteht das menschliche Selbst immer aus weltlichen und göttlichen Eigenschaften, aus männlichen und weiblichen Anteilen. Sie können die Reihe dieser polaren Gegensätze beliebig fortsetzen. Die Frage ist nur, welcher Pol unser Leben dominiert, wo wir nach dem Gleichgewicht suchen und wie wir es herstellen.«
Schweigend verließen sie den geweihten Raum des Androgyn, Alina folgte den beiden vorauseilenden Männern nur zögernd. Beim Verlassen erblickte sie das kreisrunde Monogramm mit dem Sonnenhalbmondgesicht über dem Eingang. Der Raum war den Himmelskörpern Sonne und Mond geweiht, sie hatten also das Ziel ihrer kosmischen Reise in der Unterwelt erreicht. Etwas verwirrt blickte sie auf den mittelalterlichen Kelch in ihren Händen, der letzten Endes das ganze Unheil ausgelöst hatte. Dann folgte sie den beiden anderen, die bei einer Abzweigung auf sie gewartet hatten. Gabriel war gerade dabei, den Faden ihres Gespräches wieder aufzunehmen.
»Sie scheinen sich mit diesem Selbstfindungsritual ja gut auszukennen«, sagte er etwas spöttisch zu Felipe.
»Diese Initiationskonzepte sind ja auch höchst interessant«, gab ihm Felipe prompt zur Antwort. »In der Genesis durchlaufen Adam und Eva einen Initiationsritus, indem sie vom Baum der Erkenntnis essen und erst dadurch wie Gott werden –also fähig werden zu erkennen. Folgen wir den biblischen Interpretationen, steht das Erlangen des Bewusstseins in unmittelbarer Verbindung mit der
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