Wächterin der Träume
nicht darauf gefasst, ihn so bald wiederzusehen. »Dann sollte ich wohl lieber wieder etwas munterer werden, was?«
Dazu machte Bonnie keine schlüpfrige Bemerkung, wie ich es von ihr erwartet hätte, sondern musterte mich eindringlich und fragte: »Alles in Ordnung, Kindchen?«
Ich nickte, als wäre ich noch fünfzehn und wollte meiner Mutter einreden, ich hätte nicht geraucht. »Ja, bin nur ein bisschen müde.«
Bonnie hatte Kinder – was man angesichts ihrer Figur nicht hätte denken sollen –, und daher konnte ich ihr ganz offensichtlich nichts vormachen. Aber sie machte nur: »Hmmm.«
»Gib mir eine Minute Zeit«, sagte ich, als sie zur Tür ging.
Wieder dieser scharfe Blick. Sie sah mehr, als mir lieb war. »Soll ich dem Burschen mal den Marsch blasen?«
Ich musste lächeln. »Nein. Ich muss mich nur vorher noch um etwas kümmern.« Mit »etwas« meinte ich mein Gesicht, meine Nerven, meine Courage.
»Summ einfach durch, wenn du so weit bist.« In diesem Augenblick wusste ich, dass Bonnie Noah noch tagelang hinhalten würde, wenn es sein musste. »Brauchst du noch etwas?«, fügte sie hinzu.
»Danke, nein.«
Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugezogen, stand ich auf und lief Richtung Badezimmer. Ich brauchte einfach eine Weile, um Kraft zu sammeln, und nichts verlieh mir mehr Kraft als ein perfekt geschminktes Gesicht. Ein Tropfen Parfum und ein wenig Deo konnten auch nicht schaden.
Ich war noch nicht ganz an der Badezimmertür, als der Boden plötzlich unter mir nachzugeben schien. Nein, um mich herum riss die Welt auf einmal auf, und ich wurde unsanft und ohne Vorwarnung ins Traumreich geschleudert.
»Was zum Teufel …« Noch immer schwindelig, fuhr ich herum, um zu sehen, wer dafür verantwortlich war.
Die Oberste Wächterin zeigte ein Lächeln bitterer Genugtuung, die breiten knallroten Lippen zusammengepresst. »Hallo, Dawn. Du kannst es einfach nicht lassen, was?«
Ich war zu genervt, um so viel Angst zu haben, wie es angebracht gewesen wäre. Selbst Morpheus hatte mich noch nie gegen meinen Willen ins Traumreich gezerrt. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass das möglich war. Wenn die Oberste Wächterin so viel Macht besaß, sollte man sich wohl besser nicht mit ihr anlegen. »Was willst du?«, fragte ich.
Das Lächeln der Obersten Wächterin wurde breiter, bis sie wie eine Kreuzung aus Nicole Kidman und dem Joker aussah. »Ich möchte mit dir über das reden, was du letzte Nacht getan hast.«
Ich machte mich ganz steif und richtete mich zu meiner vollen Größe auf. Ich glaubte zwar nicht, dass ich sie damit einschüchterte, aber es konnte trotzdem nicht schaden, sich so groß wie möglich zu machen – wenn auch nur zu meiner eigenen Beruhigung. »Ich weiß dein Interesse zu schätzen, aber im Augenblick bin ich ein wenig beschäftigt.« Ich wandte mich ab. Ob ich einfach gehen konnte? War sie stark genug, um mich zurückzuhalten?
Ich bekam keine Gelegenheit, es herauszufinden, denn sie ergriff wieder das Wort. »Hast du wirklich geglaubt, du kommst damit durch, dass du in Phillips Traum eindringst und ihn derart manipulierst?«
Etwas in ihrer Stimme nahm meine Aufmerksamkeit wie mit eiserner Faust gefangen. Langsam drehte ich mich zu ihr um – meine Rückkehr musste vorläufig warten. »Ich habe ihn nicht verletzt.«
»Du hättest es aber tun können.«
»Aber ich
habe
es nicht getan.« Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte ich ihren Blick.
Offensichtlich hatte sie Lust, ein bisschen mit mir zu spielen. »Ich weiß nicht, wie du überhaupt zur Welt kommen und noch dazu bis heute überleben konntest. Ein weiteres Beispiel dafür, wie du unsere Welt zugrunde richten wirst. Und dein Vater lässt es zu.«
Zugrunde richten? Sehr nett. »Ist es etwa Missmut, was ich da höre? Klingt so, als wärst du eine von diesen, die meinem Vater das Leben schwermachen.« Karatos hatte mir erzählt, dass einige im Traumreich mit der Herrschaft meines Vater unzufrieden waren – besonders, weil meine Mutter mit ihm zusammenlebte und er mich frei herumlaufen ließ. Morpheus hatte keine Ahnung, wie tief diese Unzufriedenheit ging und wie ernst er ihre kleine Rebellion nehmen sollte.
Die Oberste Wächterin zuckte mit den Schultern. »Diesen Eindruck wollte ich nie erwecken.«
Ich lächelte grimmig. »Genau. Immer schön tarnen und täuschen.«
Ihre leuchtenden Augen wurden schmal. »Mach dir um mich mal keine Sorgen.«
»Und du erspar mir leere Drohungen.« Woher nahm ich nur diese
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