Wächterin der Träume
zu früh.«
Wieder lachte er. »Sollen wir morgen erst mal zusammen essen gehen? Dann könntest du mich darüber aufklären, was du angestellt hast, während ich weg war.«
»Das kann eine Weile dauern«, erwiderte ich grinsend. »Bin ich eingeladen?«
»Mal sehen.«
Ich wusste, er machte nur Spaß. Er würde sich lieber den Arm abbeißen, als mich für sein Essen bezahlen lassen. Antwoine war ziemlich wohlhabend und hatte ein paar altmodische Ansichten.
»Dann sage ich alle anderen Verabredungen ab.«
»Prima. Wir treffen uns in dem Thai-Restaurant, wo wir das letzte Mal waren. Um eins.«
Als ich auflegte, ging es mir schon viel besser. Ich freute mich darauf, Antwoine wiederzusehen – in seiner Gegenwart fühlte ich mich mit der Welt im Reinen.
Mein letzter Termin an diesem Tag war um drei. Deandra, die in die zweite Klasse der Highschool ging, war von ihrer Mutter, einer alten Freundin von Bonnie, bei mir angemeldet worden. Deandras Vater war sieben Monate zuvor gestorben, und seitdem träumte das Mädchen immer wieder von ihm. Normalerweise sollte man annehmen, dass Deandra auf diese Weise die Trennung von ihrem Vater bewältigte, doch da er in jedem der Träume davon sprach, wie sehr er sich wünschte, dass sie wieder zusammen wären, sah die Sache ein wenig anders aus.
Das Traumreich liegt zwischen der Welt der Menschen und dem Reich des Todes. Falls Sie Ahnung von Mythologie haben, werden Sie wissen, dass mein Vater immerhin so etwas wie der Neffe des Todes ist. Ich bin nicht sicher, ob das der genaue Verwandtschaftsgrad ist, aber wie auch immer, ich hatte jedenfalls das Gefühl, Deandras Vater stecke im Traumreich fest. Wie einer dieser Schatten in Hadrias Höhle.
Außerdem befürchtete ich, er könnte seine Tochter unwillentlich zum Selbstmord überreden, denn das war es, was er ihrer Meinung nach von ihr erwartete. Ich musste sie unbedingt davon überzeugen, dass ihr Vater ihr niemals Schaden zufügen wollte, wie gern er sie auch wiedergesehen hätte.
Deandra verließ mich mit dem Versprechen, sich nicht umzubringen, nachdem ich ihr einige, hoffentlich glaubhafte Vorschläge gemacht hatte, wie man die Worte ihres Vaters anders auslegen konnte. Ich hoffte, ich hatte meine Sache gut gemacht, denn wenn sich das kleine Mädchen etwas antat, würde ich mich ziemlich lange beurlauben lassen müssen.
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und atmete tief durch. Jeden Augenblick konnte Bonnie hereinkommen, um mich über Terminänderungen für morgen zu informieren und mich zu fragen, wie mein Tag gewesen war. Doch jetzt war ich erst einmal allein, und meine Gedanken stürzten auf mich ein wie ein Rudel hungriger Wölfe.
Als ich überlegte, was ich Deandras Vater sagen würde, musste ich wieder daran denken, was ich mit Durdan gemacht hatte, und das weckte natürlich die Erinnerung an Jackey Jenkins. Sie hatte mich nur bloßgestellt, indem sie auf den Blutfleck in meiner Jeans zeigte, doch meine Rache war wesentlich schlimmer gewesen.
Ich hätte es nicht tun sollen. Ein fünfzehnjähriges Kind sollte überhaupt nicht so viel Macht besitzen. Was mir damals wie ein Triumph erschienen war, hinterließ längst einen faden Geschmack in meinem Mund und ein schreckliches Gefühl von Scham und Reue in meiner Seele.
Ich hätte vermutlich in Jackeys Träume eindringen und versuchen können, alles wiedergutzumachen, aber ich mochte nicht daran denken, was es in ihr anrichten konnte, von mir zu träumen. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie ich etwas wieder einrenken sollte, was vor dreizehn Jahren geschehen war. Wahrscheinlich ging das gar nicht. Es gab Wunden, die saßen einfach zu tief.
Und offen gestanden war ich auch zu feige, mir das Malheur anzusehen, das ich angerichtet hatte.
Um genau Viertel nach vier wurde ich von Bonnies leisem Klopfen an der Tür vor weiteren Selbstbetrachtungen gerettet. Sie wartete nicht, bis ich Herein sagte, sondern kam sofort ins Zimmer gerauscht. Das war der Grund, warum ich eine Pforte nur im Badezimmer und bei verschlossener Tür öffnete.
»Du musst ja völlig geschafft sein«, bemerkte sie mit einem Blick auf den Stapel Aktenmappen auf meinem Schreibtisch. »Schließlich warst du schon vor mir hier.«
Ich lächelte müde, während sie die Mappen aus dem Ablagekorb nahm. Die Gute sorgte dafür, dass ich perfekt organisiert war. »Ich bin fix und fertig.«
»Zu schade.« Sie setzte ein neckisches Lächeln auf. »Noah ist nämlich da.«
Ach du Schande. Ich war gar
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