Während die Welt schlief
wanderten sie in Richtung al Qiyamah. Den Läden entströmten Aromen von irdenen Gefäßen, Sirup und verschiedenartigen Ölen, während Verkäufer auf dem Gehsteig Passanten lautstark zum Kosten animierten. Ari und Hasan betraten den Souk Khan al-Zeit, strichen mit den Händen über Leder und Seide, die von den Ladenwänden herabhingen. Nur noch wenige Schritte, und sie erreichten das Mahfuz-Café.
»Zweimal Honig-Apfel«, rief Hasan dem Kellner zu.
»Das kann nicht gut sein für deine Lunge, Hasan«, ermahnte Ari ihn. »Weiß Onkel Yahya, dass du rauchst?«
»Natürlich nicht!«
Bei den Perlsteins lieferte Hasan die beiden Tabletts mit Halawa und Kunafa ab.
»Das Übliche von Mutter«, sagte er auf Deutsch.
»Danke«, entgegnete Frau Perlstein und nahm die Süßigkeiten in Empfang.
Sie war eine zurückhaltende, hochgewachsene Frau, deren Erscheinungsbild, so dachte Hasan, ganz und gar nicht auf ihr großes Herz hindeutete. Als er sie sah, suchte er instinktiv nach dem Familienerbstück, das sie stets an der Brust trug. Eins, zwei, drei, vier … achtzehn. Er gewöhnte sich an, die kleinen Perlen auf ihrer Brosche zu zählen, während sie seine Hausaufgaben kontrollierte.
Im Laufe der Jahre erwies sich Hasan als fleißiger Schüler mit schneller Auffassungsgabe. Frau Perlstein betreute ihn weiter, bis er 1943 mit Ari seinen »Abschluss« machte. Es war das Jahr, in dem die beiden jungen Männer sich eine Weile lang aus den Augen verloren, da Ari an seiner Schule ein paar Freunde fand und Hasan einem Beduinenmädchen namens Dalia verfiel, die Ganush, das Pferd seines Bruders, gestohlen hatte.
3
Das nichtsnutzige Beduinenmädchen
1940 – 1948
A nders als bei den arrangierten Ehen, die damals üblich waren – schon vor der Geburt geplant und stets innerhalb des eigenen Familienclans –, war der Bund Hasans mit Dalia aus verbotener Liebe erwachsen. Hasan stammte von den Gründervätern von Ein Hod ab und war Erbe der riesigen Ländereien, mit Obstgärten und fünf eindrucksvollen Olivenhainen. Dalia dagegen war die Tochter eines Beduinen, dessen Stamm jedes Jahr ins Dorf gekommen war, um bei der Ernte zu helfen, und sich irgendwann dort niedergelassen hatte.
Dalia war die jüngste von zwölf Schwestern, eigensinnig und unkonventionell. Obwohl sie unter der Knute ihres strengen Vaters stand, trug sie nicht immer den Hidschab, die traditionelle Verschleierung, sondern ließ ihre Haare im Wind flattern. Anders als die braven Mädchen zog sie ihren Rock hoch, wenn sie einer Eidechse nachjagen wollte, und verdreckte ihr buntes Beduinenkleid mit Schlamm und Kaktusdornen. Oft vergaß sie, ihren Beutel mit seltsamen neuen Käfern, die sie den Tag über gesammelt hatte, wieder auszuleeren – dann bekam sie eine Tracht Prügel von ihrer Mutter. Aber Dalias Entdeckerfreude
war stärker. Sie genoss es, Zeit mit ihren sechs-und achtbeinigen Freunden zu verbringen – bis sie einen vierbeinigen Freund bekam, ein Pferd namens Ganush.
Sein junger Herr, Darwish, Sohn des Yahya Abulhija, fragte sie immer, ob sie auf Ganush reiten wolle, wenn sie sich zufällig in den Hügeln trafen. Aber sie durfte nicht zusammen mit einem Jungen auf einem Pferd gesehen werden. Ihr Vater würde sie schlagen, wenn er davon erfuhr.
»Nein«, antwortete sie mit dem resoluten Ton einer Elfjährigen, aber kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, wurde ihr Gesichtsausdruck weicher und schien ein »Vielleicht« auszudrücken. Darwish sagte leise: »Ich gehe einfach vorneweg, und ich schwöre bei meiner Ehre, dass ich mich nicht nach dir umdrehen werde, wenn du auf dem Pferd sitzt.« Er wirkte vertrauenswürdig, und außerdem war hier in den Hügeln weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Sie ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. Ihr Herz war rein. »Wie komme ich da drauf?«
»Ich mache es dir einmal vor, dann kannst du es probieren, während ich mich umdrehe«, schlug Darwish vor. Ganush gestattete der zierlichen Person, seinen Rücken zu erklimmen, und dann schritt er langsam los. Plötzlich wurde sie von der Angst gepackt, man könnte sie mit einem Jungen und seinem Pferd erwischen. Sie bat darum, sofort anzuhalten, und rannte davon, nachdem sie abgestiegen war.
Einige Wochen später kehrte sie an die Stelle zurück, um ihr wunderbares vierbeiniges Geheimnis wieder zu treffen. Schließlich kam es, zusammen mit Darwish, und sie spürte die Magie von Neuem. Das Geheimnis sollte mehr als zwei Jahre andauern, und während
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