Wände leben - Samhain - Ferner Donner
versuchte das stählerne Gefängnis zu sprengen, doch die Karosserie hielt es zurück, zwang es in seine Schranken. Tief im Herzen des Wagens war Fleisch stärker als Metall, schnitten Sehnen durch Stahl und bohrten sich Blutbahnen durch Blech. An den Rändern des Wesens jedoch behielt die tote Materie die Oberhand. Die Haut des Ferrari war und blieb Metall. Hätte sich das Äußere so gewandelt wie das Innere, hatte sich der Wagen in einen riesigen Klumpen Fleisch verwandelt, der von der Geschwindigkeit zerrissen und getötet worden wäre und einen gotteslästerlichen Berg aus Gewebefasern und Blut auf der Landstraße hinterlassen hätte.
So bemerkten die Fahrer der anderen Autos nichts von dem Innenleben des silbernen Sportwagens, solange sie nicht durch die Scheibe den Menschen hinter dem Lenkrad suchten.
7
Seine Hand umklammerte den Filzstift. Zitternd setzte er eine Markierung auf den Strich, der eine Skala von 1 bis 10 bildete. Die Markierung war nahe an der 10, eine 9 oder 8,5 vielleicht. Die schweißnassen Finger führten den Stift zu der Zeitangabe vor der Skala und zogen die Zahlen nach. Immer wieder, denn sonst hatte er nichts zu tun: 11.25 Uhr.
Tim erhob sich langsam vom Boden, versuchte sich aufrecht hinzustellen, zum x-ten Mal, doch das ging nicht. Die Decke des kleinen Raumes lag nur etwa einen Meter fünfzig über dem Boden. Es war eine Holzhütte, die einmal als Hühnerstall genutzt worden war, geräumig an und für sich, aber dunkel und stickig, voller schlechter Gerüche, und mit einer viel zu niedrigen Decke. Licht fiel nur durch die Ritzen der Holzlatten ein, aus denen der Stall gezimmert war. Es reichte aus, um ihn den Bogen ausfüllen zu lassen.
Eine halbe Stunde lang an diesem Ort verbringen, so lautete die Aufgabe. Alle fünf Minuten eine Eintragung machen, die eigene Angst analysieren und notieren. Einen Punkt für „vollständig angstfrei“, zehn Punkte für „unerträgliche Panik“. Die Tür war nicht verschlossen – man konnte den Raum jederzeit verlassen, wenn es unerträglich wurde. Doch Tim wusste, dass die Übung dann immer wieder von vorne beginnen würde, in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten. Die einzige Möglichkeit, sich von diesen Torturen zu befreien, war, die Probe zu meistern, immer niedrigere Angstwerte zu erreichen, sich selbst in den Griff zu bekommen.
„Verhaltenstherapie“ nannte man so etwas. Tim sah ein, dass sie ein notwendiges Übel war. Das bedeutete nicht, dass er sie liebte.
Die ersten Minuten fielen ihm inzwischen leicht. Er schaffte es, sich abzulenken, wandte Kniffe an, die man ihm beigebracht hatte. Aber die Angst gab sich nicht kampflos geschlagen. Je mehr man sie mit billigen Tricks zurückdrängte, desto machtvoller und gewaltsamer kehrte sie zurück, und es war Tim schon passiert, dass er in den letzten dreißig Sekunden noch die Kontrolle über sich verlor und schweißüberströmt aus dem Raum stürzte, in den man ihn geschickt hatte.
11.30 Uhr. Der Junge hörte in sich hinein. Seine kurzen schwarzen Haare klebten an seinem Kopf, sein Herz schlug schnell, aber es raste nicht. Er fühlte keine Hitze. Gut. Das war eine 4. Oder eine 5? Er setzte die Markierung irgendwo in die Mitte. Wie leicht es war, seine ganze Psyche auf einer einfachen Skala von 1 bis 10 auszudrücken! All die schrecklichen Gedanken und bedrückenden Emotionen, das Gefühl zu ersticken, zerquetscht zu werden, den Verstand zu verlieren, all das passte problemlos auf diese Skala.
Die Übung war zu Ende. Er überlegte, ob er länger bleiben sollte, als von ihm erwartet wurde. Bisweilen hatte er das schon getan. Es half ihm, Selbstbewusstsein zu gewinnen. Aber es war nie eine Garantie dafür, dass es beim nächsten Mal wieder funktionierte.
Auf allen Vieren krabbelte er heraus. Es war ein schöner Spätsommertag, wie aus dem Klischee: Die Sonne schien, die Vögel sangen, und der Park war riesig. Seine Betreuerin, eine hagere, brünette Frau mittleren Alters, die die Angewohnheit hatte, die Augen zusammenzukneifen, saß ein paar Schritte entfernt auf einer Bank und las in einem Buch. Ihr Gesicht war im Schatten, ihr Körper in der Sonne. Was sie las, war kein Fachbuch, sondern ein erotischer Liebesroman, dessen Cover fast vollständig von einem gutaussehenden Jüngling mit monumentalem Brustkorb eingenommen wurde. In seinen Armen lag eine schlanke Frau wie ohnmächtig, und im Hintergrund war eine stattliche Burg zu sehen, die ihm am Ende des Romans wohl ebenso gehören
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