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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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einquartiert zu haben. Ehe der Vorfall in dem Ferienheim am Bodensee geschah, hatte sie einen klaren Schnitt vollzogen, sich von ihrer Mutter losgerissen, ein eigenes kleines Zimmer gemietet, das sie mit verschiedenen Jobs irgendwie finanzierte. Zu viele Jahre war sie mit der überdrehten Frau alleine gewesen, hatte täglich deren Hysterieanfälle über sich ergehen lassen. Der Vater in der Klapsmühle, die Mutter einen Schritt davon entfernt, das war ihre Jugend gewesen, und sie hatte aufgelebt, als sie vor kurzem einen Schlussstrich unter dieses Leben gezogen hatte. Doch jetzt, wo Vater einen Mord begangen und sich selbst getötet hatte, brachte es Karla nicht mehr übers Herz, ihre Mutter ganz alleine zu lassen. Für ein paar Tage wollte sie zu ihr ziehen, sie trösten, ihr helfen, über den ersten Schock hinwegzukommen.
    Daraus waren jetzt drei Wochen geworden. Die Frau klammerte sich an ihre Tochter, ihr einziges Kind, bis sie sie beinahe erdrückte. Wenn Karla das Haus verlassen wollte, bekam die Mutter einen Schwächeanfall, wenn sie nur mit Freunden telefonierte, unterbrach Mutter das Gespräch unter dem Vorwand, den Arzt anrufen zu müssen.
    Den Vogel hatte Mutter heute abgeschossen. Es war der erste Schultag des neuen Halbjahres. Für Karla war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, zum Unterricht zu erscheinen. Zwar herrschte in ihrem Kopf noch immer Durcheinander – Mutters Verhalten hatte ihr keine Gelegenheit gelassen, zur Ruhe zu kommen und selbst um ihren Vater zu trauern. Doch sie wollte wieder unter Leute, wollte ihre Freunde sehen. Mutter zwang sie dazu, sich vollkommen abzukapseln. Immer häufiger hatte Karla Albträume. In diesen Träumen hatte nicht nur ihr Vater ihre Freundin Gina getötet, ihre Mutter hatte gleich alle ihre übrigen Freunde umgebracht, Harald, Johannes, ein paar Mädchen aus der Klasse, mit denen sie sich gut verstand, und alle Jungs, die sie jemals geküsst hatte. „Das ist besser für dich“, sagte ihre Mutter in den Träumen. „Glaub mir, so kannst du dich mehr um mich kümmern.“
    Karla hatte sich bereit gemacht, um in die Schule zu gehen. Auf einen vorgetäuschten Schwächeanfall ihrer Mutter mit Schwindel und Übelkeit war sie gefasst gewesen und hatte sich vorgenommen, nicht darauf einzugehen. Doch Mutter hatte alle Register gezogen. Irgendwie hatte sie es geschafft, Blut zu spucken – das Waschbecken war voll damit gewesen. Vermutlich hatte sie sich absichtlich das Zahnfleisch verletzt. Einen Arzt wollte sie nicht. Sie kreischte und warf Gegenstände durchs Zimmer, als die Tochter nach dem Telefon griff. Karla sollte nur einfach bei ihr bleiben, dann würde es schon wieder vergehen, sagte sie. Karla fügte sich. Die Zeit schritt fort, der Unterricht begann, und sie saß noch immer am Bett der Frau und hielt ihre Hand.
    Gegen Zehn verkündete Karla, sie würde jetzt gehen, um wenigstens die fünfte Stunde nicht zu versäumen. Es ging ihr nicht um die fünfte Stunde. Ihr war es wichtig, die anderen zu sehen, ihnen zu zeigen, dass sie okay war.
    Als Mutter begriff, dass Karla sie wirklich zurücklassen wollte, zog sie eine Show ab, bei der sie nicht einmal davor zurückschreckte, die Einrichtung zu demolieren. Sie schwor ihr, sich das Leben zu nehmen, falls Karla sie jetzt alleine ließ. Mehr noch: Sie würde das Haus anzünden, und alle anderen Mieter würden ebenfalls ihr Leben lassen. „Alles deine Schuld!“, brüllte sie. „Du hast sie alle auf dem Gewissen.“
    Das Mädchen überlegte, ob es Sinn machen würde, das Gas abzustellen. Doch dann unterließ sie es. Mutter würde nicht so weit gehen. Sobald ihre Tochter die Wohnung verlassen hatte, würde sie sich brav in ihr Bett zurückziehen, einen Mittagsschlaf halten und neue Kraft sammeln, damit sie wieder fit für neue Anfälle war, sobald Karla zurückkehrte.
    Aber Karla hatte sich vorgenommen, nicht mehr zurückzukommen. Sie wollte nichts mehr davon wissen. Sie wollte endlich leben. Vater hatte nie wirklich gelebt. Sein Dasein war so sehr von Ängsten geprägt gewesen, dass er es nie hatte genießen können. Im Grunde war sie sogar erleichtert über seinen Tod. Wenn die furchtbare Sache mit Gina nicht gewesen wäre, hätte sie sich beinahe darüber freuen können. Sie hasste ihn nicht, selbst jetzt noch nicht, nach allem, was er getan hatte. Vielmehr wünschte sie ihm Ruhe. Sie wusste nicht, ob sie an ein Leben nach dem Tod glaubte, aber vielleicht gab es da etwas, irgendetwas, was mehr mit Leben zu tun

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