Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Wände, Treppen und vor allem die Decke. Feuchtigkeit hing an den Wänden wie in einer Höhle. Wasser tropfte zu Boden. Oder war es etwas anderes als Wasser? Harald musste an Körperflüssigkeiten denken.
Mussten sie das Schulhaus nicht evakuieren? Was war mit den Klassen in den Zimmern, in denen die Veränderungen nicht so deutlich hervortraten? Er wunderte sich selbst, wie vernünftig er dachte. Er hatte kein bisschen das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Dinge geschahen, die er nicht einordnen konnte, aber das hielt ihn nicht davon ab, logisch und folgerichtig über die Maßnahmen nachzudenken, die man zu ergreifen hatte.
Plötzlich sah er eine Frau im Flur, die er hier noch nie gesehen hatte. Eine neue Lehrerin? Sie war blond, üppig und attraktiv, Mitte dreißig vielleicht. Sie trug ein sehr feminin geschnittenes Kleid mit langem Rock und tiefem Ausschnitt. Ihr Blick unterschied sich von dem aller anderen. Sie sah nicht verblüfft aus, sondern fasziniert. Es schien beinahe, als hätte sie das, was um sie herum geschah, vorausgeahnt.
Harald begab sich in ihre Nähe und wartete, was sie tun würde. Sie ergriff nicht die Flucht. Sie beobachtete die Veränderungen und bewegte dabei ihre Hände kaum merklich hinter dem Rücken. Auch die Lippen bewegte sie, und je länger er sie beobachtete, desto sicherer war er, dass sie eine Art Zauber durchführte, eine Beschwörung oder ein Ritual. War sie es, die diese Veränderungen hervorrief? Nein. Es sah eher so aus, als versuche sie dagegen anzukämpfen.
Das fesselte ihn. In ihrer Nähe fühlte er sich seltsam geschützt.
Sie hatte offenbar registriert, dass er sich ihr genähert hatte. Er lächelte ihr zu. „Ein ziemliches Durcheinander“, meinte er, als rede er über den Verkehr während der Rushhour.
Sie schenkte ihm einen Blick, der ihm gefiel. „Wissen Sie etwas?“, erkundigte sie sich. „Über das, was hier geschieht?“
„Nicht so viel wie Sie, schätze ich.“
Die Fremde versuchte ein Lächeln, doch ihre Züge blieben angespannt. In ihnen war zu lesen, dass sie eine Menge Verantwortung trug und sich dessen bewusst war.
„Passiert das alles wirklich?“, wollte er wissen.
„Was meinen Sie? Dass sich die Wände zu bewegen scheinen?“, erwiderte sie unnatürlich hastig. „Nein, das sind Halluzinationen. Oben im Chemiesaal ist ein Gas ausgetreten. Sobald wir an der frischen Luft sind, gibt sich das.“
„Okay, das leuchtet mir ein“, gab er zurück, doch seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Dann verstehe ich nur nicht, warum Sie noch hier sind …“
„Ich gehe erst, wenn alle draußen sind.“
„Das ist sehr mutig von Ihnen. Darf ich Ihren Namen erfahren?“
„Maus. Margarete Maus. Und Sie, junger Mann, heißen …“
„Harald Salopek.“ Ging da ein Zucken durch ihr Gesicht? Unmöglich. Woher sollte sie seinen Namen kennen? Es sei denn …
„Harald“, sagte sie. „Ich würde Ihnen raten, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Und Ihr Freund Johannes sollte dasselbe tun.“
Nun war er ehrlich verblüfft. Also wusste sie doch, wer er war? Gut, und wer war sie? Nach Kripo sah sie eigentlich nicht aus, höchstens nach einer Privatdetektivin, aber etwas sagte ihm, dass sie auch das nicht war. Seit der Sache im Feriencamp hatten eine Menge Leute mit ihm sprechen wollen, und wenn sie eines gemein hatten, dann, dass sie einiges über ihn wussten, aber er nichts über sie. Bei der Polizei musste eine hübsch umfangreiche Akte über ihn angelegt worden sein. Das war nicht verwunderlich. Letztes Jahr hatte er mitgeholfen, seinen Schulkameraden Tim in die Klapsmühle zu bringen, und dieses Jahr hatte der Vater von Karla, die eine Freundin von ihm war, Gina umgebracht – ebenso eine Freundin, ein Mädchen aus seiner Clique. Wahrscheinlich hatte er nichts Strafbares getan, aber das bedeutete nicht, dass man ihn nicht trotzdem im Visier hatte.
„Ich gehe raus, sobald Sie mir die Wahrheit sagen“, gab Harald zurück. „Und Jo nehme ich mit.“
Margarete Maus schüttelte genervt den Kopf. „Ich würde sie Ihnen sagen, wenn ich sie wüsste.“ Das klang aufrichtig.
„Also kein Leck im Chemiesaal?“
„Nein“, flüsterte sie, „aber es hat niemand etwas davon, wenn wir das publik machen. Es ist eine gute Erklärung. Sie wird helfen, nicht zu viel Staub aufzuwirbeln.“
„Dann vielleicht Magie? Höhere Mächte?“
Sie sah alarmiert aus. „Wie kommen Sie darauf?“
Harald grinste. „Ihre Handbewegungen. Sie zaubern
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