Wände leben - Samhain - Ferner Donner
hatte, mehr mit Glück und Erfüllung als das, was sich zwischen seiner Geburt und seinem Tod abgespielt hatte.
Vielleicht hätte er einfach ein paar Kilometer in Qs Ferrari fahren sollen, anstatt sich in dessen Kofferraum zu ersticken. Es war verrückt: Selbst nach dem grausamen Mord an Gina hätte sie ihm ein paar Minuten des Glücks gegönnt.
Sie schlug die Tür hinter sich zu und konnte hören, wie sich ihre Mutter voller Theatralik von innen dagegen warf. Karla huschte ins Treppenhaus und band erst dort die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe, in die sie hastig geschlüpft war. Das Warten auf den Fahrstuhl hätte ihr zu lange gedauert. Sie befanden sich im vierten Stock eines Wohnblocks. Ihrer armen, alten, kranken Mutter würde es nicht einfallen, die Treppe hinunter zu rennen.
Inzwischen war es nach Elf. Sie lief zur Bushaltestelle, nur um festzustellen, dass der Bus, der sie in Richtung ihrer Schule bringen würde, vor zwei Minuten abgefahren war. Auf den nächsten würde sie eine halbe Stunde warten müssen. Da konnte sie ebenso gut zu Fuß gehen.
Die frische Luft und die Freiheit taten ihr gut. Sie würde mitten in die fünfte Stunde hineinplatzen, und keiner würde ihr deswegen Vorhaltungen machen.
Obwohl es Spätsommer war, hatte der Tag etwas Frühlingshaftes an sich. Milde Temperaturen, ein sanftes Lüftchen – Herbst und Winter schienen in unendlicher Ferne zu liegen. Die Dreiviertelstunde, die sie benötigte, reichte beinahe aus, um mit sich und der Welt ins Reine zu kommen.
Doch als sie sich ihrer Schule näherte, erschrak sie.
Rund um das Gebäude war die Hölle los. Die gesamte Schüler- und Lehrerschaft schien sich im Freien versammelt zu haben. Dazu kamen einige Schaulustige, und eine Handvoll Polizisten in Uniform waren ebenfalls anwesend.
Das letzte Stück rannte Karla. Harald und Johannes konnte sie nicht entdecken, dafür aber andere aus ihrer Klasse.
Ein Mädchen wurde eben von einem Polizisten befragt, ein anderes gab ihr wirre Auskünfte, mit denen sie nichts anfangen konnte. Irgendetwas Rätselhaftes hatte sich wohl zugetragen, aber so genau konnte niemand beschreiben, was genau es war. Ein Gerücht sprach von Gasen, die im Chemiesaal ausgetreten seien und unter den Schülern Halluzinationen hervorgerufen hatten. Dafür sprach, dass nicht jeder dasselbe gesehen hatte.
„Wo sind Harald und Jo?“, erkundigte sich Karla.
„Wieder im Schulhaus. Da war eine fremde Frau. Sie hat sie gerade eben wieder mit hineingenommen.“ Das Mädchen sah ängstlich zur Tür hinüber. „Sie müssen die einzigen sein, die sich jetzt da drin aufhalten. Für alle anderen ist es verboten hineinzugehen.“
Karla ließ sich von mehreren Mitschülern eine Schilderung der Ereignisse geben, aber nichts machte Sinn. Wenn gefährliche Gase ausgetreten wären, warum befanden sich dann Harald und Jo im Haus? Und wer war diese fremde Frau?
Die Schülerin war am Rande des Parkplatzes angekommen, als jemand etwas rief: „Der Ferrari!“
Nur wenige Meter von ihr entfernt jagte Qs silberner Sportwagen vorüber. Karla versuchte zu erkennen, wer am Steuer saß. Der Fahrersitz schien leer zu sein. Dafür gab es einen Beifahrer. Sie war nicht ganz sicher, aber der Junge, der dort saß, sah nach Tim aus.
Das machte keinen Sinn, und doch schien es irgendwie zusammenzuhängen. Der Wagen, in dem ihr Vater sich getötet hatte, darin Tim. Und Harald und Jo waren als einzige im Schulhaus, von der Fremden natürlich abgesehen.
Karla sprintete los, dem Wagen hinterher. Er bremste plötzlich und bog in die Tiefgarage ein. In zwei Polizeibeamte kam jetzt auch Bewegung. Sie folgten dem Auto, der eine sogar mit gezogener Waffe. Karla preschte an ihnen vorbei. Die Polizisten waren schon ältere Semester und etwas füllig. Karla war eine gute Läuferin, trotz ihrer großen Oberweite.
„Weg da, Mädchen!“, bellte der Beamte, der die Waffe hielt. Als Karla mitten durch seine Schusslinie lief, hob er den Revolver gen Himmel, um sie nicht zu gefährden. Der Ferrari verschwand in die Tiefgarage, die Schülerin und die Polizisten hinterher.
Der Wagen kam in der Einfahrt der Garage zum Stehen. Die meisten der Parkplätze waren belegt. Karla wurde langsamer. Sie näherte sich dem Auto von der rechten, der Beifahrerseite. Der Motor lief noch, und Tim machte keine Anstalten auszusteigen.
Doch – jetzt sah sie es! Der Junge versuchte sogar verzweifelt, den Ferrari zu verlassen. Er riss an der Tür, hämmerte gegen die Scheibe. Panik
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