Wände leben - Samhain - Ferner Donner
würde wie die Schöne in seinen Armen.
Die Therapeutin sah erst auf, als sich Tim neben sie setzte und ihr das Blatt mit seinen Notizen unter die Nase hielt. Sie nahm es ihm ab und betrachtete es. „Okay“, sagte sie. „Das kann sich sehen lassen.“ Ihre Euphorie hielt sich in Grenzen, obwohl die Werte wirklich nicht schlecht waren. Vermutlich war sie gerade an einer spannenden Stelle und wollte unbedingt weiterlesen.
„Seien Sie ganz ehrlich zu mir, Doktor“, sagte er feixend, nur um sie zu stören. „Werde ich jemals wieder gehen können?“ Es machte ihm Spaß, sie ein wenig zu ärgern. Schließlich tat sie den lieben langen Tag nichts anderes als Leute wie ihn von einer Angstsituation in die andere zu hetzen.
Sie schüttelte sich unwillig, und ihr Blick wanderte auf ihre Buchseite. Tim beugte sich zu ihr hinüber und las laut in ihrem Buch:
„’Nicht’, sagte Desdemona. ‚Nicht hier. Der Graf kann jeden Augenblick zurückkehren. Wenn er uns so sieht …’ Doch ihre Vernunft schmolz unter seinen brennenden Küssen wie Eis in der Julisonne. Seine Hände schienen nicht mehr die des zurückhaltenden Antonio zu sein. Ein Engel der Lust schien sie in dieser Stunde zu führen, und …“
Die Therapeutin klappte das Buch zu und legte es neben sich. „Hast du nichts zu tun?“, fragte sie. „Medikamente zu nehmen, Therapiegruppen zu besuchen?“
Seit einem Jahr war Tim hier. In den ersten Monaten war sein Leben die Hölle gewesen. Auf Schritt und Tritt hatte seine Angst vor geschlossenen Räumen ihn verfolgt, seine Medikation hatte ihn in ein willenloses, schlafwandlerisches Geschöpf verwandelt, ohne die Angst wirklich besiegen zu können. Doch seit geraumer Zeit ging es ihm besser. Die Ärzte hatten ihm in Aussicht gestellt, noch in den nächsten Wochen entlassen zu werden. Eigentlich war es sein Ziel gewesen, es bis zum Beginn des neuen Schuljahrs zu schaffen, doch so etwas ließ sich nicht überhasten. Ein Klaustrophobie-Patient wurde normalerweise gar nicht oder nur kurz stationär behandelt. Tim war ein außergewöhnlich schwieriger Fall. Nun allerdings ging es bergauf.
Fast hundert Meter reichte der Rasen bis zu dem hübschen, orangefarbenen Renaissancebauwerk hinüber, in dem die Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen untergebracht war. Tim war längst nicht mehr in der „beschützenden“, der geschlossenen Station untergebracht. Er konnte das Gelände verlassen, wann immer er wollte. Nun ließ er seine Therapeutin einfach mit dem schönen Wetter und dem Buch alleine und schlenderte durch den Park.
Eine milde Brise trocknete seinen Schweiß, und er fühlte sich ausgezeichnet. Unter freiem Himmel ging es ihm immer gut. Vor der beinahe prunkvollen Front des Klinikgebäudes gab es ein Rondell mit Blumen. Gleich dort stand ein silberner Wagen.
Es war nicht irgendein Auto. Tim erkannte es sofort.
Den Ferrari, den Siegfried Quetz alias Q fuhr, vergaß man nicht so schnell. Alle Medikamente und Therapien des letzten Jahres hatten die Erinnerung an dieses Wahnsinnsgefährt nicht auslöschen können. Wie die meisten Männer hätte auch Tim eine Menge darum gegeben, einmal eine Runde damit drehen zu dürfen.
Die Beifahrertür klappte in diesem Moment auf.
Tim begann zu rennen. Er bekam nicht sehr häufig Besuch – und eine Einladung wie diese schon gar nicht. Vor einem Jahr hätten ihn keine zehn Pferde in einen engen Sportwagen gekriegt, doch nun übermannte ihn die Freude, und er traute es sich zu. Er warf noch einen Blick auf die Klinik, ob nicht einer seiner Ärzte, Pfleger oder Mitpatienten zufällig aus dem Fenster sah – ein paar Leute neidisch zu machen, hatte noch nie geschadet. Als er niemanden sah, seufzte er und stieg in den Wagen. Kaum saß er in dem tiefen Sitz, als die Tür sich ganz von alleine schloss.
Tims Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Das … war kein Auto! Und neben ihm am Steuer saß niemand!
Mit aufheulendem Motor fuhr der Ferrari an.
8
„Und was aus deiner armen, alten, kranken Mutter wird, ist dir wohl egal, du undankbares Geschöpf?“ Die Frau rang die Hände wie eine Sterbende. Auf ihren Knien rutschte sie durch das Wohnzimmer. Es war wie ein schlechtes Theaterstück.
„Meine arme, alte, kranke Mutter ist wohlhabend, 45 Jahre alt und kerngesund“, erwiderte Karla. Schritt für Schritt wich sie vor der Frau zurück, die ihr ständig folgte. So ging das nun schon seit Minuten.
Längst bereute sie, sich wieder bei ihrer Mutter
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