Wahlkampf: Ein Mira-Valensky-Krimi
Großvater aller Österreicherinnen und Österreicher gegolten, etwas Mozart, etwas Lederhose und etwas Demokratie, obwohl …
Orsolics kicherte. Es klang wenig sympathisch. »Sie dürfen aber nicht schreiben, was ich Ihnen jetzt erzähle. Weil das gehört sich nicht, auch wenn er von der anderen Partei war.«
Ich war nicht besonders interessiert.
»Er war ein guter Präsident, das muss man ihm lassen. Aber er ist in den letzten Jahren immer mehr vertrottelt. Wissen Sie, er hat nur so gütig gewirkt, weil er nichts mehr begriffen hat. Oder zumindest wenig. Ab und zu hat er sogar vergessen, wo sein Zimmer war. Deswegen ist er auch nicht mehr so viel in der Öffentlichkeit aufgetreten.«
Und gänzlich hatte er wohl vergessen, wie er am Ende des Zweiten Weltkrieges sein NS-Parteibuch zerrissen und in den fünfziger Jahren seine politischen Gegner als Kommunisten diffamiert hatte. Friede seiner Asche. Ich hatte etwas im Archiv gestöbert und einiges entdeckt, das mir nicht zum gütigen, alten, abgehobenen Präsidenten in der prächtig renovierten Hofburg zu passen schien.
Geschichte. Geschichten. »Warum hat Vogls Tochter ›Mörder‹ geschrien?«, fragte ich.
Orsolics schaute mich irritiert an. »Mörder?« Sein Blick wurde ausdruckslos.
»Ich habe es gehört.«
»Mörder? Warum sollte ein solches Wort fallen? Die beiden …«
»Die beiden hatten offensichtlich einen heftigen Streit.«
»Sie müssen bei einem anderen Frühstück gewesen sein.«
»Bevor ich ins Haus kam.«
»Sie lauschen?«
»Es war nicht zu überhören.«
»Mörder?« Orsolics blickte aus dem Fenster. Ich lehnte mich gegen die Schreibtischkante. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Mörder? Ach so, jetzt haben Sie mich wirklich verwirrt. Das war im Radio, irgendeine Sendung. Ein Hörspiel wahrscheinlich.« Er lachte. »Wenn ich das Vogl erzähle … Mörder … « Er schien sich vor Lachen gar nicht halten zu können.
»Es war die Stimme von Vogls Tochter.«
Orsolics lachte weiter. »Fragen Sie seine Tochter, fragen Sie seine Sicherheitsleute, fragen Sie mich … Mörder!« Er lachte weiter und lachte immer noch, als die Tür aufging und Chloe Fischer hereinkam. Sie zog eine Braue hoch. Orsolics verstummte.
»Unser Pressesprecher möchte Ihnen unsere Medienecke zeigen«, sagte Chloe Fischer. Auch sie konnte lächeln. Aber anders als bei Vogl, wirkte das nicht so echt. Hinter ihr stand ein lang aufgeschossener, dünner junger Mann mit Fliege. Er entführte mich nach draußen. Offenbar war ich zumindest im getäfelten Teil der Wahlkampfzentrale nicht immer willkommen.
Ich überlegte gerade, wie viele Versionen des Werbevideos ich noch zu sehen bekommen würde, als der Pressesprecher von einer eifrigen jungen Frau zum Telefon gerufen wurde. Wichtig runzelte er die Stirn und verschwand zu einem der hellen Schreibtische. Mein Handy. Ich hatte meine Tasche in Orsolics’ Zimmer liegen lassen. Geräuschlos ging ich über den grünen Teppichboden. In dieser hölzernen, schallschluckenden Pracht könnte man einen Horrorfilm drehen. Die Türe zu Orsolics’ Zimmer war bloß angelehnt. Chloe Fischer und Orsolics standen da und lächelten einander an. Sieh an, Chloe Fischer konnte auch von Herzen lächeln. Die beiden hatten mich nicht bemerkt. Ob sie miteinander … Automatisch blieb ich stehen.
»Bellini-Klein sind wir los«, sagte Chloe Fischer zufrieden, »Schadensbegrenzung im letzten Moment.«
»Ja«, erwiderte Orsolics. »Das haben wir geschafft.«
Also doch keine Liebesgeschichte. Ich ging einige Schritte zurück, räusperte mich, klopfte und trat ein. Warum sahen sie mich trotzdem so ertappt an?
Fünf Minuten später durfte ich wieder im Windschatten des Kandidaten segeln. In seinem Büro – einer größeren Kopie des Büros von Orsolics mit einer Besprechungsecke in Nussholz und dunkelbraunem Leder – empfing Vogl diverse Delegationen zu Besprechungen. Ich umklammerte meinen Block und bemühte mich, nicht allzu offensichtlich wegzudösen. Der Kandidat zeigte sich stets interessiert, egal, ob es um eine neue Kunsthalle, die Stilllegung einer Kohlengrube oder die Probleme der heimischen Tabakindustrie ging. Und mehr wurde auch nicht verlangt. Im Gegenteil, die Männer – Frauen waren keine dabei – wirkten tief geehrt. Dann ein Fototermin für eine deutsche Zeitung. Vogl in nachdenklicher Pose auf den Schreibtisch gestützt, Vogl beim Studium von Unterlagen, Vogl optimistisch lächelnd vor seinem Wahlplakat.
Ich hatte Hunger, und
Weitere Kostenlose Bücher