Wahn - Duma Key
fragend zu ihm aufsah. Das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer ab, ohne hinzusehen, und sagte Hallo. In Gedanken war ich noch bei Tina Garibaldi. Der Anrufer war Wireman. Er fragte mich, ob ich kurz herüberkommen könne. Ich sagte, klar, natürlich, und wollte mich schon verabschieden, als mir bewusst wurde, dass ich etwas gehört hatte, nicht in seiner Stimme, sondern unterschwellig, das keineswegs normal war. Ich fragte ihn, was passiert sei.
»Ich scheine auf dem linken Auge erblindet zu sein, muchacho .«
Er lachte kurz auf. Das war ein seltsam hilfloser Laut.
»Ich wusste, dass das irgendwann passieren würde, aber es ist trotzdem ein Schock. So ist uns wahrscheinlich allen zumute, wenn wir aufwachen und t-t…« Er holte schaudernd tief Luft. »Kannst du kommen? Ich hab versucht, Annmarie vom Pflegedienst zu erreichen, aber sie ist dienstlich unterwegs, und... kannst du kommen, Edgar? Bitte?«
»Bin sofort da. Halt durch, Wireman. Bleib, wo du bist, und halt durch.«
V Mit meinem eigenen Sehvermögen hatte ich seit Wochen keine Probleme mehr. Der Unfall hatte mein Gesichtsfeld etwas eingeengt, weshalb ich den Kopf nach rechts drehte, um Dinge zu sehen, die ich früher auch mit Blick nach vorn erfasst hätte, doch sonst war mit meinem Sehen wieder alles in Ordnung. Als ich zu meinem anonymen gemieteten Chevy hinausging, fragte ich mich, wie ich reagieren würde, wenn dieser rote Blutfilm wieder anfinge, sich über alles zu legen... oder wenn ich eines Morgens mit nichts als einem schwarzen Loch auf einer Seite meiner Welt aufwachen würde. Dabei fragte ich mich unwillkürlich, wie Wireman trotzdem ein Lachen zustande gebracht hatte. Selbst ein kleines.
Meine Hand lag schon auf dem Türgriff des Malibu, als mir wieder einfiel, dass er gesagt hatte, Annmarie Whistler, von der er sich bei Elizabeth vertreten ließ, wenn er länger abwesend war, sei dienstlich unterwegs. Ich hastete ins Haus zurück, wählte Jacks Handynummer und hoffte inständig, dass er sich melden würde und kommen konnte. Er tat und konnte. Das war ein Punkt für die Heimmannschaft.
VI An diesem Morgen verließ ich die Insel erstmals am Steuer eines Autos und verlor meine Unschuld in großem Stil, indem ich mich in den in endloser Schlange nach Norden rollenden Verkehr auf dem Tamiami Trail einreihte. Wir waren unterwegs zum Sarasota Memorial Hospital. Damit folgten wir einer Empfehlung von Elizabeth’ Arzt, den ich trotz Wiremans schwacher Proteste angerufen hatte. Und jetzt fragte Wireman mich dauernd, ob mit mir alles in Ordnung sei, ob ich dieser Fahrt auch bestimmt gewachsen sei, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Jack ihn gefahren hätte, damit ich bei Elizabeth bleiben konnte.
»Mir geht’s gut«, sagte ich.
»Nun, du siehst aus wie jemand, der eine Heidenangst hat. Das erkenne sogar ich.« Sein rechtes Auge hatte sich in meine Richtung gedreht. Das linke versuchte zu folgen, was ihm jedoch nicht recht gelang. Es war blutunterlaufen, blickte leicht nach oben und tränte unaufhörlich. »Du flippst doch nicht etwa aus, muchacho? «
»Nein. Außerdem hast du Elizabeth gehört. Wärst du nicht freiwillig gegangen, hätte sie einen Besen genommen und dich damit aus dem Haus gejagt.«
Eigentlich hätte »Miss Eastlake« nicht erfahren sollen, dass ihm etwas fehlte, aber sie war mit ihrem Gehwägelchen in die Küche gekommen und hatte das Ende unseres Gesprächs gehört. Und außerdem besaß auch sie etwas von der Gabe, über die Wireman verfügte. Wir sprachen nie darüber, aber sie war da.
»Wenn sie dich dabehalten wollen...«, begann ich.
»Oh, das werden sie natürlich wollen, das ist ein beschissener Reflex bei ihnen, aber darauf lasse ich mich nicht ein. Könnten sie die Sache in Ordnung bringen, wäre das was anderes. Ich fahre nur hin, weil Hadlock mir vielleicht bestätigen kann, dass dies keine permanente Bildstörung, sondern nur ein vorübergehender Echoimpuls auf dem Radar ist.« Er lächelte schwach.
»Wireman, was zum Teufel ist mit dir los?«
»Alles zu seiner Zeit, muchacho . Was malst du zurzeit?«
»Das ist jetzt unwichtig.«
»Oje«, sagte Wireman. »Offenbar bin ich nicht der Einzige, der die Ausfragerei satthat. Hast du gewusst, dass in den Wintermonaten jeder vierzigste regelmäßige Benutzer des Tamiami Trail einen Verkehrsunfall haben wird? Echt wahr! Und wie ich neulich in den Nachrichten gehört habe, sind die Chancen, dass ein Asteroid von
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