Wahn - Duma Key
versucht hatte. Nicht unbedingt die Kleine in dem Ruderboot; sie war vermutlich nur eine zusätzlicheAttraktion, eineVerknüpfung zur Realität. Es war das Schiff, hinter dem ich die ganze Zeit her gewesen war. Das Schiff und der Sonnenuntergang. Rückblickend erkannte ich die Ironie darin: Hallo, die Buntstiftzeichnung, war der Realität am nächsten gekommen.
III Gegen halb vier fiel ich ins Bett und schlief bis neun. Als ich aufwachte, fühlte ich mich erfrischt, gereinigt, wie neugeboren. Das Wetter war schön: wolkenlos und wärmer als seit einer Woche. Die Baumgartens bereiteten sich auf ihre Rückkehr nach Norden vor, aber bevor sie abreisten, spielte ich am Strand noch eine lebhafte Partie Frisbee mit ihren Jungen. Mein Appetit war groß, mein Schmerzpegel niedrig. Es war nett, sich wieder als normaler Mensch zu fühlen, auch wenn es nur für eine Stunde war.
Auch Elizabeth’ Wetter hatte aufgeklart. Ich las ihr eine Anzahl von Gedichten vor, während sie ihre Porzellanfiguren arrangierte. Auch Wireman war da: ausnahmsweise ohne unerledigte Arbeit und gut gelaunt. An diesem Tag erschien mir die Welt wundervoll. Erst später wurde mir klar, dass George »Candy« Brown die zwölfjährige Tina Garibaldi womöglich entführt hatte, während ich Elizabeth »Liebe ruft uns zu Alltagsdingen« vorlas, Richard Wilburs Gedicht übers Wäschewaschen. Ich wählte es aus, weil ich an diesem Tag in der Zeitung gelesen hatte, es sei eine Art Valentinstags-Hit geworden. Die Entführung der kleinen Garibaldi ereignete sich dem Zeitstempel nach um genau 15.16 Uhr - ungefähr in dem Augenblick, in dem ich einen Schluck von Wiremans grünem Tee nahm und Wilburs Gedicht entfaltete, das ich im Internet gefunden und ausgedruckt hatte.
Die Ladebuchten der Lieferzone hinter dem Einkaufszentrum Crossroads Mall wurden von Kameras überwacht. Als Diebstahlschutz, nehme ich an. Was sie in diesem Fall aufzeichneten, war der Raub eines Kinderlebens. Sie kommt ins Bild, als sie von rechts nach links geht: ein schlankes Mädchen in Jeans und mit einem Rucksack über der Schulter. Wahrscheinlich will sie rasch etwas einkaufen, bevor sie das letzte Stück nach Hause geht. Auf dem Videoband, das die Fernsehstationen zwanghaft abspielten, sieht man ihn hinter einer Laderampe hervorkommen und sie am Handgelenk festhalten. Sie blickt zu ihm auf, scheint etwas zu fragen. Brown nickt und führt sie dann weg. Anfangs wehrt sie sich nicht, aber dann - kurz bevor ein Müllcontainer die Sicht auf sie versperrt - versucht sie, sich loszureißen. Aber er hält ihr Handgelenk weiter umklammert, während sie aus dem Blickfeld der Kamera verschwinden. Laut Befund des Leichenbeschauers der County ermordete er sie weniger als fünf Stunden später, aber ihrer grässlich zugerichteten Leiche nach zu urteilen, müssen diese Stunden dem kleinen Mädchen, das nie jemandem etwas zuleide getan hatte, sehr lang erschienen sein. Sie müssen ihr endlos vorgekommen sein.
Und draußen vor dem offenen Fenster schweben Engelscharen durch den Morgen, schreibt Richard Wilbur in »Liebe ruft uns zu Alltagsdingen«. Aber nein, Richard. Nein.
Das hier waren nur Bettlaken.
IV Die Baumgartens reisten ab. Die Hunde der Godfreys kläfften ihnen ein Lebewohl nach. Ein Team der Reinigungsfirma Merry Maids nahm sich das Haus vor, in dem die Baumgartens gewohnt hatten, und putzte es gründlich. Die Hunde der Godfreys begrüßten (und verabschiedeten) es bellend. Tina Garibaldis Leiche wurde in einem Graben hinter dem Little-League-Baseballfeld im Wilk Park aufgefunden: von der Taille abwärts nackt und wie ein Müllsack weggeworfen. Channel 6 zeigte ihre Mutter, die sich verzweifelt kreischend das Gesicht zerkratzte. Die Kintners ersetzten die Baumgartens. Die jungen Leute aus Toledo räumten die Nr. 39, und drei nette alte Damen aus Michigan zogen dort ein. Die alten Damen lachten viel und riefen tatsächlich Juu-hu! , wenn sie Wireman oder mich kommen sahen. Ich habe keine Ahnung, ob sie das neu installierte Wi-Fi in Nr. 39 benutzten, aber als ich zum ersten Mal Scrabble mit ihnen spielte, fütterten sie mich ab. Die Hunde der Godfreys kläfften unaufhörlich, wenn die alten Damen ihren Nachmittagsspaziergang machten. Ein Mann, der in Sarasota in der Autowaschanlage E-Z JetWash arbeitete, rief die Polizei an und sagte, der Kerl auf dem Tina-Garibaldi-Band sehe einem seiner Kollegen, einem gewissen George Brown, allgemein als
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