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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ist Julia zu uns gekommen. Bei Findse, Rupfse und Vergisse gab es damals fünfunddreißig Anwälte, und Julias Schmerzensgeldklage hätte bei jedem von fünfzehn Kollegen landen können. Ich bekam sie. Siehst du die Zahlen allmählich die richtige Reihenfolge einnehmen?«
    »Ja.«
    »Ich habe mehr getan, als sie zu vertreten. Ich hab sie geheiratet. Sie gewinnt den Prozess und erhält ein ansehnliches Schmerzensgeld. Der Zirkus verlässt die Stadt, wie das Zirkusse so tun, nur mit einer Buchhalterin weniger. Soll ich dir erzählen, dass wir uns sehr geliebt haben?«
    »Nein«, sagte ich. »Das höre ich jedes Mal, wenn du ihren Namen sagst.«
    »Danke, Edgar. Danke.« Er saß mit gesenktem Kopf und auf der grauen Mappe liegenden Händen da. Dann zog er eine abgewetzte, unglaublich dicke Geldbörse aus der Tasche. Es war mir ein Rätsel, wie er es schaffte, auf diesem Klumpen zu sitzen. Er blätterte die für Fotos und wichtige Dokumente bestimmten kleinen Klarsichthüllen durch, dann machte er halt und zog das Foto einer schwarzhaarigen, dunkeläugigen Frau in einer ärmellosen Bluse heraus. Ich schätzte sie auf ungefähr dreißig. Sie war atemberaubend schön.
    »Mi Julia«, sagte er. Ich wollte ihm die Aufnahme zurückgeben, aber er schüttelte den Kopf. Er wählte ein weiteres Bild aus. Ich fürchtete mich davor, es mir anzusehen, nahm es aber trotzdem, als er es mir hinhielt.
    Das Foto zeigte Julia Wireman en miniature. Das gleiche schwarze Haar, das ein blasses, vollkommen ebenmäßiges Gesicht umrahmte. Die gleichen ernsten dunklen Augen.
    »Esmeralda«, sagte Wireman. »Die andere Hälfte meines Herzens.«
    »Esmeralda«, wiederholte ich. Für mich waren dieAugen, die mich aus diesem Foto anblickten, und die Augen, die auf dem Bild zu Candy Brown aufgesehen hatten, nahezu identisch. Aber vielleicht waren alle Kinderaugen gleich. Mein Arm begann zu jucken. Der eine, der in der Verbrennungsanlage des Krankenhauses in Rauch aufgegangen war. Ich wollte ihn kratzen und erwischte meine Rippen. Alles beim Alten dort.
    Wireman nahm die Fotos zurück, küsste jedes mit einer knappen, nüchternen Leidenschaft, die schrecklich anzusehen war, und steckte sie zurück in ihre Klarsichthüllen. Das dauerte ein paar Sekunden, weil seine Hände jetzt sichtbar zitterten. Und weil er vermutlich Sehstörungen hatte. »Man braucht die verdammten Zahlen nicht einmal zu beobachten, amigo . Wenn man die Augen schließt, kann man sie einrasten hören. Klick und klick und klick . Manche haben einfach Glück!« Er schnalzte mit der Zunge. In dem beengten Innenraum des kleinen Wagens war das Geräusch schockierend laut.
    »Als Ez drei war, fing Julia an, auf Teilzeitbasis bei einer Hilfsorganisation namens Work Fair, Immigration Solutions in Omaha zu arbeiten. Sie hat Spanisch sprechenden Zuwanderern mit und ohne Greencards Arbeit verschafft und Illegale, die eingebürgert werden wollten, auf den richtigen Weg gebracht. Nur eine kleine Anlaufstelle in einem ehemaligen Laden, die aber auf praktischer Ebene mehr Gutes bewirkt hat als all die Demonstrationen und Mahnwachen. Nach Wiremans bescheidener Meinung.«
    Er drückte die Hände gegen die Augen und holte erschaudernd tief Luft. Dann ließ er die Handflächen mit dumpfem Klatschen auf die graue Mappe zurückfallen.
    »Als es passiert ist, war ich geschäftlich in Kansas City. Julia hat von Montag bis Donnerstag vormittags bei Work Fair gearbeitet. Ez war in einer Kinderkrippe. In einer guten. Ich hätte sie verklagen und damit ruinieren können - ihre Betreiberinnen an den Bettelstab bringen -, aber ich hab es nicht getan. Weil ich sogar in meinem Schmerz begriffen habe, dass das, was Esmeralda passiert ist, jedem Kind hätte passieren können. Alles ist eine einzige lotería, entiendes ? Unsere Kanzlei hat mal eine Jalousienfirma verklagt - ich war allerdings nicht involviert -, weil ein in seinem Bettchen liegendes Baby die Zugschnur gepackt und verschluckt hat und daran erstickt ist. Die Eltern haben den Prozess gewonnen und eine Menge Geld gekriegt, aber ihr Baby war trotzdem tot, und wär es nicht die Schnur gewesen, hätte es irgendwas anderes sein können. Ein Matchbox-Auto. Eine Hundemarke. Eine Murmel.« Wireman zuckte mit den Schultern. »Bei Ez war’s die Murmel. Sie hat sie in die Luftröhre bekommen und ist daran erstickt.«
    »Wireman, um Gottes willen! Das tut mir schrecklich leid!«
    »Sie hat noch gelebt, als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Frau aus der

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