Wahn - Duma Key
Denkvermögen ungetrübt bleibt, werden Sie sich an das letzte Gute erinnern, das Ihnen jemals zugestoßen ist. Das hat nichts mit Pessimismus zu tun, nur mit Logik. Ich hoffe, dass mir noch Gutes bevorsteht - das Leben wäre sinnlos, wenn ich nicht daran glauben würde -, aber seit dem letzten Mal liegt eine lange Durststrecke hinter mir. Dieses letzte Mal ist mir deutlich in Erinnerung. Es hat sich vor etwas über vier Jahren ereignet: am Abend des 15. April in der Scoto Gallery. Das war zwischen 19.45 und 20 Uhr, als die Schatten auf der Palm Avenue leicht bläulich zu werden begannen. Die genaue Uhrzeit weiß ich, weil ich immer wieder auf meine Armbanduhr sah. Die Scoto war bereits gerammelt voll - bis zur maximal zulässigen Personenzahl, vielleicht sogar etwas darüber -, aber meine Familie fehlte noch. Ich hatte Pam und Illy tagsüber getroffen, und Wireman hatte mir versichert, Melindas Flug sei pünktlich, aber an diesem Abend hatte sich noch niemand von ihnen blicken lassen. Oder wenigstens angerufen.
In der Nische links neben mir, in der die Bar und acht Gemälde aus dem Zyklus Sonnenuntergang mit... zahlreiche Gäste angelockt hatten, klimperte ein Trio aus dem hiesigen Konservatorium eine trübselige Version von »My Funny Valentine« herunter. Mary Ire (mit einem Champagnerglas in der Hand, aber vorerst noch nüchtern) erläuterte einer aufmerksamen kleinen Menge irgendetwas Künstlerisches. Rechts von mir öffnete sich ein größerer Raum, in dem das Büfett aufgebaut war. An einer Wand hingen Aus Muscheln wachsen Rosen und ein Gemälde, dem ich den Titel Ich sehe den Mond gegeben hatte; an einer anderen drei Ansichten von Duma Key. Obwohl auf der Tafel auf einer Staffelei am Eingang stand, Fotografieren sei verboten, hatte ich schon mehrere Leute beobachtet, die Aufnahmen mit ihren Handys machten.
Als ich das Jimmy Yoshida gegenüber nebenbei erwähnte, nickte er, schien aber weder ärgerlich noch auch nur irritiert zu sein, eher wirkte er gedankenverloren. »Heute sind viele Leute hier, die ich nicht mit der Kunstszene in Verbindung bringe oder gar nicht kenne«, sagte er. »Solchen Andrang habe ich noch nie erlebt.«
»Ist das schlecht?«
»Gott, nein! Aber wenn man jahrelang gekämpft hat, den Kopf über Wasser zu halten, kommt es einem seltsam vor, so davongetragen zu werden.«
Der zentrale Ausstellungsraum der Scoto Gallery war groß, was an diesem Abend nur gut war. Obwohl es in den Nebenräumen Essen, Getränke und Musik gab, schien er die meisten Besucher irgendwann magisch anzuziehen. An fast unsichtbaren Nylonschnüren hing der Zyklus Mädchen mit Schiff mitten im Raum. Wireman blickt nach Westen nahm die rechte Seitenwand ein. Dieses Bild und Mädchen mit Schiff Nr. 8 waren die einzigen ausgestellten Gemälde, die ich mit unverk. gekennzeichnet hatte: Wireman , weil dieses Bild ihm gehörte, und Nr. 8 , weil ich es einfach nicht verkaufen konnte.
»Wir halten dich wohl vom Zubettgehen ab, Boss?«, fragte Angel Slobotnik links neben mir - wie eh und je immun gegen den Ellbogen seiner Frau.
»Nein«, sagte ich. »Ich war in meinem Leben nie wacher; ich bin nur...«
Ein Mann in einem Anzug, der zwei Mille gekostet haben musste, streckte mir die Hand hin. »Henry Vestick, Mr. Freemantle, First Sarasota Bank and Trust. Privatkundenbereich. Ihre Bilder sind wundervoll. Ich bin überwältigt . Ich bin hingerissen. «
»Danke«, sagte ich und überlegte mir, dass er SIE MÜSSEN UNBEDINGT WEITERMACHEN vergessen hatte. »Sehr freundlich.«
Zwischen seinen Fingern erschien eine Visitenkarte. Das sah aus, als führe ein Straßengaukler einen Zaubertrick vor. Oder es hätte so ausgesehen, wenn Gaukler Armani-Anzüge trügen. »Falls ich irgendetwas für Sie tun kann … ich habe meine Telefonnummern hinten draufgeschrieben - privat, Handy, dienstlich.«
»Sehr freundlich«, wiederholte ich. Mir fiel nichts anderes ein, und was erwartete Mr. Vestick eigentlich von mir? Dass ich ihn zu Hause anrief und mich nochmals bedankte? Dass ich bei ihm einen Kredit beantragte und ein Gemälde als Sicherheit anbot?
»Darf ich später mit meiner Frau vorbeikommen und Sie mit ihr bekannt machen?«, fragte er, und ich sah einen merkwürdigen Ausdruck in seinem Blick. Es war nicht ganz der Ausdruck wie in Wiremans Blick, als er zu der Einsicht gelangt war, dass ich Candy Brown beseitigt hatte, aber doch recht ähnlich. Als hätte Vestick ein bisschen Angst vor mir.
»Natürlich«, sagte ich, und er
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