Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
horchte auf das Knirschen von Muscheln und Kieselsteinen unter seinen Reifen, als sein Wagen anfuhr. Ich horchte auf das verklingende Motorengeräusch. Leise, leiser, unhörbar. Jetzt war nur noch das stetige milde Seufzen des Golfs zu hören. Und mein eigener Herzschlag: gedämpft und sanft. Keine Uhren. Kein Klingeln, kein Schlagen, nicht einmal ein Ticken. Ich atmete tief durch und roch den leicht feuchten Modergeruch eines Hauses, das - von dem rituellen wöchentlichen (oder zweiwöchentlichen) Lüften abgesehen - ziemlich lange abgesperrt gewesen ist. Ich bildete mir auch ein, Meersalz und subtropische Gräser, die ich noch nicht benennen konnte, zu riechen.
    Vor allem horchte ich auf das Seufzen der Wellen, das so sehr dem Atmen eines großen schlafenden Wesens glich, und blickte durch die Glaswand übers Wasser hinaus. Wegen der erhöhten Lage des Big Pink konnte ich den Strand von meinem Platz im rückwärtigen Teil des Wohnzimmers aus überhaupt nicht sehen; in meinem Sessel sitzend, hätte ich auf einem dieser großen Tanker sein können, die Öl aus Venezuela nach Galveston brachten. Ein leichter Dunst überzog jetzt die Himmelskuppel und dämpfte die Lichtreflexe auf dem Wasser. Links standen drei Palmen, deren Wedel von einer ganz schwachen Brise bewegt wurden, als Silhouetten vor dem Wasser: das Sujet meiner ersten Skizze nach dem Unfall. Sieht abba nick sähr nach Minnesödda aus, hatte Tom Riley gesagt.
    Ihr Anblick bewirkte, dass ich sie wieder zeichnen wollte - das war eine Art trockener Hunger, aber eigentlich nicht im Bauch; er ließ meinen Verstand kribbeln. Und merkwürdigerweise den Stumpf meines amputierten Arms. »Nicht jetzt«, sagte ich. »Später. Ich bin erledigt.«
    Ich stemmte mich im zweiten Anlauf aus dem Sessel hoch und war froh, dass der Junge nicht da war, um mein erstes unbeholfenes Zurückfallen zu sehen und meinen kindischen Wutschrei (»Schei- ße! «) zu hören. Als ich auf den Beinen war, stand ich einen Augenblick an meiner Krücke schwankend da und staunte über meine Müdigkeit. Normalerweise war »erledigt« nur etwas, das man sagte, aber in diesem Moment kam ich mir genauso vor.
    Mit langsamen Schritten - ich hatte nicht die Absicht, hier drinnen am ersten Tag hinzuknallen - ging ich in mein Schlafzimmer hinüber. Dort stand ein übergroßes französisches Bett, und ich wollte nichts mehr, als hinzugehen, mich draufzusetzen, die lächerlichen Zierkissen (eines mit dem Bild zweier spielender Cockerspaniels und der ziemlich verblüffenden Idee VIELLEICHT SIND HUNDE NUR LEUTE IN BESTFORM) mit meiner Krücke auf den Fußboden zu wischen, mich auszustrecken und zwei Stunden zu schlafen. Vielleicht drei. Aber als Erstes trat ich an die Bank am Fußende des Bettes - weiter sehr vorsichtig, weil ich wusste, wie leicht ich in meiner Erschöpfung über die eigenen Füße fallen konnte -, wo der Junge zwei meiner drei Koffer aufgestapelt hatte. Der, den ich brauchte, lag natürlich unten. Ich stieß den oberen einfach auf den Fußboden hinunter und öffnete die vordere Reißverschlusstasche des anderen.
    Glasige blaue Augen starrten mit ihrem Ausdruck ewiger missbilligender Überraschung heraus: Aua, du böser Mann! Ich war die ganze Zeit hier eingesperrt! Eine leblose orangerote Haarsträhne quoll aus der Enge. Reba die Wutmanagementpuppe in ihrem besten blauen Kleid und den schwarzen Lackschuhen.
    Ich nahm sie zwischen meinen Stumpf und meine Seite und streckte mich auf dem Bett aus. Als ich zwischen den Zierkissen genügend Platz geschaffen hatte (vor allem wollte ich die spielenden Spaniels auf den Fußboden befördern), legte ich sie neben mich.
    »Ich hab seinen Namen vergessen«, sagte ich. »Ich hab ihn auf der Herfahrt gewusst, aber dann vergessen.« Reba sah zum Deckenventilator auf, dessen Blätter noch standen. Ich hatte vergessen, ihn einzuschalten. Reba war es egal, ob meine neue Teilzeitkraft Ike, Mike oder Andy Van Slyke hieß. Ihr war alles egal, sie bestand nur aus Lumpen, die in einen rosa Körper gestopft waren, wahrscheinlich von irgendeinem unglücklichen Kind, das in Kambodscha oder im gottverdammten Uruguay ausgebeutet worden war.
    »Wie heißt er?«, fragte ich sie. Trotz meiner Müdigkeit spürte ich das Einsetzen der alten trostlosen Panik. Der alten trostlosen Wut. Der Angst, dass dies für den Rest meines Lebens so gehen würde. Oder sich verschlimmern! Auch das war möglich! Ich würde wieder in die Rehaklinik kommen, die in Wirklichkeit nur die Hölle

Weitere Kostenlose Bücher