Wahn - Duma Key
anzurufen, falls der Hausanschluss nicht funktionierte, aber Jack hatte auch ans Telefon gedacht.
Eigentlich rechnete ich damit, nur ihren Anrufbeantworter zu hören - Studentinnen sind viel beschäftigte Mädchen -, aber sie meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Daddy?« Das verblüffte mich so, dass ich zunächst kein Wort herausbrachte, und sie fragte noch mal: »Dad?«
»Ja«, sagte ich. »Woher weißt du das?«
»Die angezeigte Nummer hat die Vorwahl 941 - in dem Vorwahlbereich liegt auch Duma Key. Ich hab nachgesehen.«
»Moderne Technik. Da komme ich nicht mehr mit. Wie geht’s dir, Kindchen?«
»Gut. Die Frage ist: Wie geht’s dir? «
»Ziemlich gut. Sogar besser als ziemlich gut.«
»Der Kerl, den du angeheuert hast...?«
»Ein netter Junge. Das Bett ist gemacht, der Kühlschrank gefüllt. Ich habe gleich nach der Ankunft ein fünfstündiges Nickerchen gemacht.«
Nun entstand eine Pause, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme besorgter als je zuvor. »Du nimmst nicht zu viele Schmerztabletten, nicht wahr? Oxycontin soll nämlich eine Art trojanisches Pferd sein. Aber das weißt du natürlich alles selbst.«
»Natürlich nicht, ich halte mich an die verschriebene Dosis. Genau genommen...« Ich verstummte.
»Was, Daddy? Was?« Sie schien kurz davor zu sein, ein Taxi zu rufen und in das nächste Flugzeug zu steigen.
»Ich merke gerade, dass ich das Vicodin um fünf ausgelassen habe...« Ich sah auf meine Armbanduhr. »Und das Oxycontin um acht auch. Nicht zu glauben!«
»Wie schlimm sind die Schmerzen?«
»Nicht so schlimm, dass ein paar Tylenol nicht helfen würden. Zumindest bis Mitternacht.«
»Das kommt wahrscheinlich von der Luftveränderung«, sagte sie. »Und dem Nickerchen.«
Ich bezweifelte nicht, dass beides eine Rolle gespielt hatte, aber bestimmt steckte mehr dahinter. Vielleicht war das verrückt, aber ich dachte, das Zeichnen habe dazu beigetragen. Man könnte auch sagen, ich wusste es.
Wir redeten eine Zeit lang, und ich konnte hören, wie die Besorgnis allmählich aus ihrem Tonfall wich. Ersetzt wurde sie durch Traurigkeit. Sie begriff anscheinend, dass diese Sache wirklich passierte, dass ihre Eltern nicht eines Morgens aufwachen und alles zurücknehmen würden. Aber sie versprach, Pam anzurufen und Melinda eine E-Mail zu schicken, damit sie wussten, dass ich noch unter den Lebenden weilte.
»Hast du dort keinen E-Mail-Account, Daddy?«
»Doch, aber heute Abend bist du mein E-Mail-Account, Cookie.«
Sie lachte, schniefte, lachte wieder. Ich überlegte, ob ich sie fragen sollte, ob sie weinte, entschied mich aber dagegen. Vielleicht keine so gute Idee.
»Ilse? Ich lasse dich jetzt lieber gehen, Schätzchen. Ich möchte den Tag wegduschen.«
»Okay, aber...« Eine Pause. Dann platzte sie heraus: »Ich find’s grässlich , dass du dort unten in Florida ganz allein bist! Vielleicht knallst du in der Dusche mal auf den Hintern! Das ist nicht richtig!«
»Cookie, mir geht’s gut. Wirklich. Der Junge... er heißt …« Hurrikan, dachte ich. Weather Channel. »Er heißt Jim Cantori.« Dicht dran, aber noch nicht ganz. »Jack, meine ich.«
»Das ist nicht dasselbe, und das weißt du. Willst du, dass ich komme?«
»Nur wenn du willst, dass deine Mutter uns beide skalpiert«, sagte ich. »Ich möchte, dass du bleibst, wo du bist, und halt den Kopf über Wasser, mein Schatz. Wir bleiben in Verbindung.«
»Okay. Aber pass auf dich auf. Keine Dummheiten.«
»Keine Dummheiten. Roger, Houston.«
»Hä?«
»Schon gut.«
»Daddy, ich will, dass du’s mir versprichst.«
Einen schrecklichen und unheimlichen Moment lang sah ich Ilse mit elf Jahren: Ilse, die eine Pfadfinderuniform trug und mich mit Monica Goldsteins schockiertem Blick anstarrte. Bevor ich die Worte aufhalten konnte, hörte ich mich selbst sagen: »Versprochen. Großes Ehrenwort. Beim Namen meiner Mutter.«
Sie kicherte. »Den Spruch hab ich noch nie gehört.«
»Es gibt eine Menge an mir, das du noch nicht kennst. Ich bin ein tiefes Wasser.«
»Wenn du’s sagst.« Erneute Pause. Dann: »Hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb.«
Ich legte den Hörer behutsam auf und starrte ihn noch lange an.
VII Statt zu duschen, ging ich den Strand hinunter zum Wasser. Ich merkte rasch, dass meine Krücke im Sand nichts nützte - dass sie sogar hinderlich war -, aber sobald ich die Hausecke erreicht hatte, war das Wasser keine zwei Dutzend Schritte mehr entfernt. Eine Kleinigkeit,
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