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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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unbeholfene Art, öffnete den Rucksack und zog meinen Skizzenblock heraus. ARTISAN stand vorn darauf. Ein Witz angesichts meiner gegenwärtigen Fähigkeiten. Ich wühlte tiefer und zog meine Schachtel mit Buntstiften heraus.
    Ich zeichnete und kolorierte rasch, ohne viel auf Einzelheiten zu achten. Von einer willkürlichen Horizontlinie ausgehend, schraffierte ich nach oben, fuhr mit meinem Venusgelb in wilder Ausgelassenheit übers Blatt, manchmal auch über das Schiff (der erste Tanker der Welt, der Gelbsucht bekam, stellte ich mir vor) und machte mir nichts daraus. Als der Sonnenuntergang ungefähr die richtige Ausdehnung hatte - er verblasste jetzt rasch -, schraffierte ich mit dunkleren Orangetönen weiter. Dann nahm ich mir wieder das Schiff vor und setzte, ohne viel nachzudenken, eine Anzahl eckiger schwarzer Linien aufs Papier. So sah ich es.
    Als ich fertig war, war es fast ganz dunkel.
    Links von mir raschelten die drei Palmen.
    Unter und vor mir - aber jetzt nicht mehr allzu weit entfernt, denn die Flut kam herein - seufzte der Golf von Mexiko, als habe er einen langen Tag hinter sich und noch viel Arbeit vor sich. Über mir standen Tausende von Sternen, und während ich hinsah, erschienen noch mehr.
    Das alles war schon immer hier, dachte ich und rief mir etwas ins Gedächtnis, was Melinda immer sagte, wenn sie im Radio einen Song hörte, den sie mochte: Der hatte mich schon beim ersten Hallo. Also schrieb ich unter meinen rudimentären Tanker in kleinen Buchstaben HALLO . Soweit ich mich erinnern kann (und darin bin ich inzwischen schon besser), war es das erste Mal, dass ich ein Bild betitelte. Und sofern Titel gut sein können, ist es ein guter Titel, oder? Trotz des ganzen Schlamassels, der noch folgen sollte, finde ich noch heute, dass es der perfekte Titel für ein Bild ist, das von jemandem gezeichnet wurde, der sich redlich Mühe gab, nicht mehr traurig zu sein - der sich zu erinnern versuchte, wie es sich anfühlte, glücklich zu sein.
    Das Bild war fertig. Ich legte den Stift weg, und genau in dem Moment sprach das Big Pink zum ersten Mal mit mir. Seine Stimme war sanfter als das seufzende Atmen des Golfs, aber ich verstand sie trotzdem sehr gut.
    Ich habe auf dich gewartet, sagte es.
     
     
     
     
     
     
    VI Dies war das Jahr der Selbstgespräche. Manchmal antworteten auch andere Stimmen, aber an diesem Abend war ich mit mir allein.
    »Houston, hier Freemantle, wie hören Sie mich, Houston?« Ich stand vor dem offenen Kühlschrank und dachte: O Mann, wenn das der Grundbedarf ist, möchte ich nicht wissen, wie’s aussehen würde, wenn der Junge mal richtig einkauft - damit käme ich durch den dritten Weltkrieg.
    »Äh, Roger, Freemantle, verstanden.«
    »Wir haben Mortadella, Houston, Mortadella ist reichlich da, verstanden?«
    »Roger, Freemantle, wir hören Sie laut und klar. Wie ist Ihre Mayo-Situation?«
    Auch Mayo war reichlich da. Ich machte mir zwei Mortadella-Sandwichs auf Weiß - wo ich aufgewachsen war, wurden Kinder in dem Glauben erzogen, die Götter lebten von Mortadella, Mayonnaise und Weißbrot - und aß sie am Küchentisch. In der Speisekammer entdeckte ich einen Stapel Apfel- und Heidelbeertörtchen von Table Talk. Ich begann mit dem Gedanken zu spielen, Jack Cantori in meinem Testament als Alleinerben einzusetzen.
    Vor Essen fast überschwappend, ging ich ins Wohnzimmer, schaltete alle Lampen an und betrachtete Hallo . Das Bild war nicht sehr gut. Aber es war interessant. Das hingekritzelte Nachleuchten der Sonne hatte eine düstere, hochofenartige Qualität, die erschreckend war. Das Schiff war nicht der Tanker, den ich gesehen hatte, aber meines war auf unheimliche Weise reizvoll. Es war wenig mehr als eine Vogelscheuche von einem Schiff, und mein sich überlagerndes gelbes und orangerotes Gekritzel hatte es außerdem in ein Geisterschiff verwandelt, als scheine dieser eigenartige Sonnenuntergang durch seinen Rumpf hindurch.
    Ich stellte das Blatt auf den Fernseher und lehnte es an das Schild DER BESITZER BITTET SIE UND IHRE GÄSTE, IM HAUS NICHT ZU RAUCHEN. Ich betrachtete es noch einen Augenblick länger und dachte, es brauchte noch etwas im Vordergrund - vielleicht ein kleineres Schiff, um dem Tanker am Horizont eine Perspektive zu verleihen -, aber ich hatte keine Lust mehr zu zeichnen. Außerdem würde etwas Hinzugemaltes vielleicht den speziellen Charme des Bildes ruinieren. Stattdessen griff ich zum Telefonhörer und nahm mir vor, Ilse von meinem Handy aus

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