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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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der kaum mehr als Strichmännchen gezeichnet hatte, bevor ein Baustellenunfall ihm einen Arm geraubt, den Schädel eingedrückt und ihn fast das Leben gekostet hatte.
    Sie hatte Felder gezeichnet. Palmen. Den Strand. Ein riesiges schwarzes Gesicht, rund wie ein Basketball, mit lächelnden roten Lippen - vermutlich die Haushälterin Melda, obwohl diese Melda eher wie ein übergroßes Kind in extremer Nahaufnahme aussah. Dann viele Tiere - Möwen, Pelikane, Waschbären, eine Schildkröte, eine Hirschkuh, ein Luchs -, die in natürlicher Größe, aber über den Strand fliegend oder laufend dargestellt waren. Ich fand einen absolut detailgetreu gezeichneten Reiher, der auf dem Balkongeländer des Hauses stand, in dem sie aufgewachsen war. Direkt darunter befand sich ein Aquarell, auf dem derselbe Vogel mit vorgerecktem Schnabel über dem Fischteich lauerte. Die aus dem Bild starrenden scharfen Augen hatten genau die Farbe des Teichwassers. Sie hat getan, was ich getan habe, dachte ich und spürte erneut eine Gänsehaut. Sie hat versucht, das Alltägliche neu zu erfinden, es neu zu machen, indem sie es in einen Traum verwandelt.
    Würden Dario, Jimmy und Alice sich vor Begeisterung überschlagen, wenn sie diese Bilder zu Gesicht bekämen? Für mich stand das außer Zweifel.
    Hier waren zwei kleine Mädchen - bestimmt Laura und Tessie - mit breitem Kürbislächeln, das absichtlich über ihre Gesichtsränder hinausreichte.
    Hier war Daddy, größer als das Haus, neben dem er stand - offenbar die erste Villa Heron’s Roost -, der eine Zigarre von der Größe einer Rakete rauchte. Ein Rauchring umgab den Mond am Himmel über ihm.
    Hier waren zwei Mädchen in dunkelgrünenTrägerröcken, die eine unbefestigte Straße entlanggingen und dabei ihre Schulbücher auf den Köpfen balancierten, wie manche Afrikanerinnen ihre Kalebassen: zweifellos Maria und Hannah. Hinter ihnen marschierte eine Kolonne von Fröschen. Entgegen allen Regeln der Perspektive wurden sie nicht kleiner, sondern immer größer.
    Als Nächstes kam Elizabeth’ Lächelnde Pferde -Phase mit gut einem Dutzend Zeichnungen. Ich blätterte sie durch, dann wählte ich eine aus und tippte darauf. »Die hier war in der Zeitung abgebildet.«
    Wireman sagte: »Weiter, nur weiter! Du hast noch nichts gesehen.«
    Noch mehr Pferde... weitere Familienbilder in Bleistift, mit Kohle oder in fröhlichen Aquarellfarben, wobei die Familienmitglieder sich fast immer wie Ausschneidepuppen an den Händen hielten … dann ein Sturm, der im Swimmingpool Wellen schlug und die vom Wind gepeitschten Palmwedel wie ausgefranste Banner flattern ließ.
    Insgesamt waren es über hundert Bilder. Elizabeth mochte nur ein Kind gewesen sein, aber auch sie hatte »den Korken fliegen lassen«. Zwei oder drei weitere Sturmbilder … vielleicht von der Alice, die Eastlakes Schatz freigelegt hatte, vielleicht nur von einem schweren Gewitter, das ließ sich unmöglich sagen... dann der Golf … wieder der Golf, diesmal mit fliegenden Fischen von der Größe von Delfinen... der Golf mit Pelikanen, die Regenbogen in ihren Schnäbeln zu halten schienen... der Golf bei Sonnenuntergang … und …
    Ich machte halt, weil es mir den Atem verschlug.
    Verglichen mit vielen anderen, die ich schon durchgeblättert hatte, war dieses Bild sehr schlicht, nur eine Schiffssilhouette bei letztem Licht, am Scheideweg zwischen Tag und Nacht, aber es war seine Einfachheit, die ihm Kraft verlieh. Jedenfalls hatte ich das gedacht, als ich eben dieses Motiv an meinem ersten Abend im Big Pink gezeichnet hatte. Hier gab es dieselbe Antenne, die sich vom Bug zu etwas spannte, das in Elizabeth’ Zeit wohl als Marconi-Mast bezeichnet worden wäre, und ein leuchtend orangerotes Dreieck erzeugte. Identisch war auch der nach oben führende Farbverlauf von Orange zu Blau. Es gab sogar dieselbe nicht ganz achtlos hingekritzelte Übermalung, die das Schiff - schlanker, als meins gewesen war - wie ein Phantom erscheinen ließ, das dort draußen nach Norden lief.
    »Das habe ich auch gezeichnet«, sagte ich mit schwacher Stimme.
    »Ich weiß«, sagte Wireman. »Ich kenne die Zeichnung. Du hast sie Hallo genannt.«
    Ich blätterte weiter und übersprang dicke Stapel von Aquarellen und Buntstiftzeichnungen, weil ich wusste, was ich letztlich finden würde. Und ja, ziemlich weit unten stieß ich auf Elizabeth’ erste Zeichnung der Perse . Nur hatte sie das Schiff als Neubau gezeichnet: als ranken, eleganten Dreimastschoner, der mit zum

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