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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Augustas Aussehen: Sie war sehr gealtert und wirkte wie ein Gebilde aus brüchigem Pergament, das ein einziger Hauch umstoßen könnte. Sie stirbt, dachte Annabella, und fühlte Betroffenheit in sich aufsteigen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, gleich mit dem Verhör zu beginnen, aber so ließ sie Augusta noch einige Zeit ihr seichtes Geplaudere fortführen. Eine todgeweihte Frau würde ihr ohnehin nicht mehr die Unwahrheit sagen. Annabella nahm den Zettel mit den Fragen, die sie sich aufgeschrieben hatte, aus ihrem Pompadour und begann unbewußt ihn immer kleiner zusammenzufalten.
    Augusta erzählte von London, von der Weltausstellung, die dort zum erstenmal stattfand, von der Mode, die sich unter Königin Viktoria so sehr verändert hatte. »Im Moment reden alle davon, in der nächsten Saison nur noch in bis zum Kopf hochgeschlossenen Kleidern zu erscheinen - bis zum Kopf! Für unsereins ist das ja gleichgültig, aber die jungen Mädchen tun mir leid. Sie müssen sich mit diesen Kragen ja wie Giraffen vorkommen!«
    Sie wandte sich Robertson zu. »Sicher langweilt Sie solches Frauengeschwätz, Reverend.« Sie war nicht hierhergekommen, um über die Londoner Mode zu sprechen, sondern um sich mit Annabella zu versöhnen, und wartete darauf, daß deren geistliche Stütze endlich verschwand, damit sie mit dem ernsthaften Teil ihres Gesprächs beginnen konnten.
    Annabella begriff, worauf ihre Schwägerin hinauswollte, und ließ ein winziges Lächeln über ihre fest zusammengepreßten Lippen gleiten - das erste seit langer, seit sehr langer Zeit. »Reverend Robertson wird während der gesamten Dauer unserer Unterredung anwesend sein«, sagte sie und sah Augusta dabei direkt in die Augen. »Schließlich brauche ich einen Zeugen, der der Nachwelt berichtet, was du zu sagen hast.«
    Augusta traf es wie ein Schlag ins Gesicht. Also das sollte es sein. Keine Versöhnung, natürlich nicht. Ein Geständnis. Seit dreißig Jahren nur das eine - ein Geständnis. Ein Geständnis, damit Annabella sich endlich in ihren jahrzehntelangen Bemühungen der Selbstrechtfertigung bestätigt sah - eine ebenso absurde wie unnötige Rechtfertigung, da nur Annabella selbst sich anklagte. Die Öffentlichkeit betrachtete sie als den Inbegriff von Tugend. Arme Annabella. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie traurig. Hatte sie Annabella nicht längst schon alles gestanden, was es zu gestehen gab? Sie erinnerte sich an das letzte gequälte Zusammentreffen mit ihrer Schwägerin, das keiner von beiden auch nur ein wenig geholfen hatte. Was gab es also noch zu gestehen?
    Annabellas schneidende Stimme riß sie aus ihren Gedanken.
    »Dann muß ich dein Gedächtnis etwas auffrischen, Augusta.«
    Sie wechselte schnell einen Blick mit dem Reverend, der unauffällig nickte, und fuhr dann fort: »Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß mein Gatte, dein verstorbener Bruder, am Ende seines Lebens erkannt haben muß, daß ich vom ersten bis zum letzten Moment sein einziger wahrer Freund gewesen bin.«
    Augusta dachte an die zahlreichen bissigen Bezeichnungen, die Byron für seine Frau verwendet hatte: »Meine moralische Klytämnestra«, »das tugendhafte Ungeheuer, Miss Milbanke«,
    »die Prinzessin der Parallelogramme«. Das Tragikomische an Annabellas Behauptung ließ in ihrem Inneren den verzweifelten Wunsch entstehen zu lachen, und sie brachte daher nicht mehr als ein angemessenes Schweigen zustande - mochte es Annabella deuten, wie sie wollte. Vielleicht war sie an einer Reaktion auch überhaupt nicht interessiert.
    »… nicht schon früher eingesehen hat, kann nur an einem liegen.« Sie rückte etwas näher und glich in diesem Augenblick, wie Augusta fand, einem der Hühner von Six Mile Bottom, das einen Wurm gesichtet hatte. »Du hast ihn gegen mich aufgehetzt. Du hast seinen unnatürlichen Haß gegen mich in deinen Briefen aufrechterhalten, und daß er nicht reuig nach England zurückkehrte, um meine Verzeihung zu erflehen, ist allein deine Schuld.«
    Augusta saß wie gelähmt da. Sie sah die unerbittliche Frau vor sich an, ohne sie wirklich zu erkennen. War dies die Schwester, die sich in der Verlassenheit einer Nacht an sie geklammert und geschluchzt hatte: »Ich weiß nicht, warum er mich nicht liebt, Augusta, ich weiß es wirklich nicht.«
    »Und um zu dieser Schlußfolgerung zu gelangen, hast du dreißig Jahre gebraucht?« fragte sie schließlich, um überhaupt etwas zu sagen. In Annabellas blasse Wangen stieg ein Hauch von Rot, »Wage es

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