Wahnsinn, der das Herz zerfrisst
trug, und ahnte nichts von dem tiefen Gefühl der Demütigung und Minderwertigkeit, das sie dem Jungen dadurch einflößte.
Doch jetzt kam der gerechte, der unüberbietbare Ausgleich: ihr Sohn wurde Pair von England! Catherine brach ihr Gelübde, niemals mehr an die Holderness zu schreiben. Sie machte es so kurz wie möglich, doch aus jeder Zeile sprach ihr Triumph. Ha!
Sie war jetzt die Mutter eines Mitglieds der ewig herrschenden Oberschicht. Da mochte die Holderness sehen, wo sie mit Johns Göre aus erster Ehe hinkam.
Lady Holderness preßte die Lippen zusammen, während sie ihrer Enkeltochter Catherines Brief reichte. »Augusta, dein Bruder ist jetzt der sechste Lord Byron.«
»Magnifique!« rief Mademoiselle Berger. »C’est superbe, vraiment!« Augusta sah ihre Großmutter bittend an. »Kann ich ihn jetzt besuchen?« Lady Holderness’ Antwort war ebenso kurz wie endgültig. »Nein!«
Catherine und der Pair von England siedelten nach Newstead Abbey über, dem verfallenen Stammsitz der Byrons. Die Wälder waren abgeholzt oder verwahrlost, der Tierbestand ausgerottet, und die zum Schloß umgewandelte alte Abtei lag zum Teil schon in Trümmern. Jedermann hatte Catherine davor gewarnt, sich dort niederzulassen, doch die Vorstellung, ihre Briefe von nun an vom altadeligen Stammsitz Newstead Abbey aus verschicken zu können, lockte unwiderstehlich. Dafür nahm sie sogar das Entsetzen beim Anblick dieses Erbes in Kauf. Ihr Sohn allerdings verliebte sich vom ersten Augenblick an in das verfallene alte Schloß, den See und den verwilderten Park.
Er verschwand stundenlang, manchmal den ganzen Tag, um das Gebäude und seine Umgebung zu erkunden, was Mrs. Byron zur Verzweiflung trieb; denn anders als in dem bescheidenen Haus in Aberdeen war er hier ihrer Aufsicht völlig entzogen.
Als er dann wiederauftauchte, waren seine Kleider schmutzig, und in der Hand hielt er triumphierend einen Totenschädel.
»Ich wußte doch, daß es noch Überreste von den Mönchen hier gibt, Mama!« Catherine warf einen Blick auf seine Trophäe und erschauderte. »Wie kannst du so etwas nur anfassen? Wirf es weg!« Der Sohn hatte ihren Starrsinn geerbt und schüttelte energisch den Kopf. Sie mußte lächeln. Obwohl seine Haare fast so dunkel wie ihre waren, schien er doch sonst das Abbild seines Vaters zu sein. Jack, den sie so sehr geliebt hatte, daß sie noch in diesem Jahr bei den Worten »O mein Captain« in einer Theatervorstellung in Ohnmacht gefallen war… und den sie auch ein- oder zweimal durchaus ernsthaft mit dem Messer bedroht hatte, wenn ihr Temperament mit ihr durchging.
»Es ist ein Brief von Mary Duff gekommen«, schmeichelte sie.
»Wirf das gräßliche Ding weg, und ich gebe ihn dir.« Mary Duff war eine Cousine, die im letzten Jahr Aberdeen besucht und die er sofort zu seiner Verlobten erklärt hatte.
Sein Gesicht erhellte sich jetzt, doch dann warf er ihr einen mißtrauischen Blick zu. Seine Mutter machte sich nicht das geringste daraus zu lügen, wenn es ihrem Zweck dienlich war. Er überlegte und schüttelte wieder den Kopf.
Catherine richtete sich auf und runzelte die Stirn. Sie war klein, aber mit ihrer üppigen Figur eine imposante Erscheinung. Ihre Stimme klang drohend, als sie jetzt befahl: »Wirf es weg, sofort!« Er rührte sich nicht. Wie der Blitz war sie bei ihm und versetzte ihm ein paar Ohrfeigen. »Oh«, keuchte sie und wich einige Schritte zurück, »du bist genau wie dein Vater. Aber du bist mein Sohn, nur zehn Jahre alt, und du wirst mir gehorchen!« Seine Wangen waren gerötet, aber er schob das Kinn vor und erklärte laut und deutlich: »Eher gehe ich zur Hölle!«
Bei dieser Bemerkung verlor Catherine ihre Beherrschung. Joe Murray, einer der Diener des bösen Lords, hatte ihr vor etwa einer Viertelstunde das Dinner serviert und beobachtete nun staunend, wie seine neue Herrin erst ihr Weinglas, dann die sorgsam hergerichtete Platte mit dem Kapaun in Richtung ihres Sohnes schleuderte, der offensichtlich Übung darin besaß, sich zu ducken, und dabei Flüche von sich gab, die dem fünften Lord selbst Ehre gemacht hätten.
»Du glaubst wohl, du könntest dir das erlauben, weil wir nicht mehr in Aberdeen sind? Verdammt sollst du sein«, sie ging zu dem Besteck über, »verdammt, verdammt, verdammt! Lahmes Balg!«
Bei dem letzten Wort erstarrte ihr Sohn, vergaß, ihren Geschützen auszuweichen, und wurde von einer Gabel getroffen. Blut tropfte von seinem Ohr herab, doch er rührte sich nicht,
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