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Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Wahnsinn, der das Herz zerfrisst

Titel: Wahnsinn, der das Herz zerfrisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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die gegenwärtige Jahreszeit nennst, in jedem anderen Land, das ich gesehen habe, wird man Winter dazu sagen.« Und sie mußte lachen. Unversehens begann sie ein Gespräch mit ihm, wie sie es in der letzten Zeit immer öfter tat, da sie wußte, daß sie ihn bald wiedersehen würde. »Weißt du, es ist wirklich schade, daß du diese Lokomotiven nicht mehr erlebt hast. Sie sind vielleicht etwas laut, aber doch angenehmer als Kutschen für die Überlandfahrt - es holpert nicht so. Wirklich dumm von mir, sich vor so etwas zu fürchten. Du hättest natürlich gleich das erste Modell benutzt.« Sie schwieg eine Weile und versuchte vergeblich sich Byron in einem Zug auszumalen. »Sicher, Kutschen waren romantischer. Und könntest du dir vorstellen, daß sich ein Kutscher so steif und würdig benimmt wie der Herr vom Personal, mit dem Emily vorhin sprach? Er hätte Fletcher Konkurrenz gemacht! O Georgy, wir sind alle etwas unbeweglicher geworden…«
    Da fiel ihr wieder ein, daß ihr Bruder, als sie sich seinerzeit zum erstenmal wirklich begegneten, ihr streng verboten hatte, ihn so zu nennen. »Sag Byron.« Sie fühlte sich belustigt und verärgert zugleich und redete ihn von da an ständig mit »Baby Byron« an, worauf er, um sich zu rächen, ihren Spitznamen von Gus zu Gans umformte. Baby Byron!
    Bei ihrer Ankunft in Brighton hatte es aufgehört zu regnen, und der Schirm, den ihr Emily vor ihrem Abschied noch einmal ans Herz gelegt hatte, diente ihr nun als Stütze. Der unverbrüchlich freundliche Schaffner half ihr beim Aussteigen und war fast gekränkt über das Trinkgeld, das sie ihm geben wollte. Nachdem sie sich eine Weile vergeblich nach Annabella umgesehen hatte, wurde sie von einem Bediensteten mittleren Alters angesprochen. »Mrs. Leigh?« Sie nickte und fühlte sich plötzlich verängstigt und verloren. Von der fröhlichen Reisestimmung war so gut wie nichts übriggeblieben. Ihre Gelenke schmerzten, und sie wurde sich einmal mehr ihrer Hinfälligkeit bewußt. »Lady Byron hat mich geschickt, um Sie abzuholen. Sie erwartet Sie.«
    So - Annabella wollte also nicht persönlich erscheinen, um sie zu empfangen. Das schmerzte, nicht sehr, aber doch wie ein kleiner, feiner Dorn, der sich nicht entfernen läßt. Sie tröstete sich damit, daß auch Annabella das Alter zusetzte.
    Die Kutsche, die Annabella geschickt hatte, brachte Augusta schließlich zu einem der zahlreichen Seehotels. Als sie vor kurzem wieder begonnen hatten, sich zu schreiben, hatte Annabella nur die hiesige Post als Adresse angegeben, als befürchte sie, Augusta könne unvermutet hier auftauchen. Versuchte Annabella hier wieder einmal, sich mittels präzis durchdachtem Handeln von Ängsten und Gefühlsausbrüchen abzuschirmen? Dabei waren wir einmal Freundinnen, dachte Augusta. Es ist, wie ich zu Emily gesagt habe. Zwei alte Damen, die sich gerne wiedersehen möchten. Alles andere ist vorbei.
    Es genügte allerdings, beim Betreten von Annabellas Hotelsuite den trockenen Kuß ihrer Schwägerin auf der Wange zu spüren und in ihre Augen zu blicken, um zu wissen, daß nichts vorbei war, daß Annabella sich immer noch von der Vergangenheit gefangennehmen ließ, einer Vergangenheit, die über dreißig Jahre zurücklag. »Meine liebe Augusta!«
    Die Suite entsprach Annabella aufs Haar: geschmackvoll eingerichtet, jeder Gegenstand passend und an seinem richtigen Platz, nichts Überflüssiges. Alles, wie es sich gehörte.
    Beim Eintreten traf Augusta auf einen ihr unbekannten jungen Mann. Annabella stellte ihn als Reverend Robertson vor, »meine geistliche Stütze in der letzten Zeit«. Reverend Robertson hatte das gesunde gute Aussehen eines Vollblutpferdes, allerdings gepaart mit einem eisigen, abweisenden Blick.
    In seine Stirn gruben sich zwei mißbilligende Falten, während er die gebrechliche alte Dame mit unübersehbarer Distanz betrachtete. Augusta lächelte: »Reverend, ich nehme an, wir sehen uns spätestens dann wieder, wenn Sie zum Erzbischof von Canterbury befördert werden.« Eine dritte ablehnende Linie trat auf seiner Stirn hervor, während er kühl antwortete:
    »Ich strebe nicht das Bischofsamt an.« Augustas Mund wölbte sich mit Erstaunen. »Welch ein Versäumnis für die Christenheit?« rief sie.
    »Setze dich doch, Augusta«, forderte Annabella ihre Schwägerin kühl auf, um dem peinlichen Verhalten gegenüber dem Reverend ein Ende zu bereiten - es bewies einmal mehr die Oberflächlichkeit ihres Glaubens. Annabella war entsetzt über

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