Wahnsinn
dich jetzt eine Weile in deine Badewanne und hoffst, dass er dich innendrin nicht allzu schlimm verletzt hat. Dann machst du einfach weiter.
Als hätte der Scheißkerl nie existiert.
Wenn sich die Gelegenheit ergibt, kannst du die anderen vor ihm warnen, aber du gehst nicht ins Detail. Denise musst du auf jeden Fall warnen.
Wenn du ihm begegnest, wirst du ihn wie Luft behandeln.
Sie ging die Treppe zu ihrem leeren Zimmer hinauf, setzte sich aufs Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Boston, Massachusetts ∙ März 1978
Lydia straffte die Haut über dem schlaffen Arm des alten Mannes und fand die Vene beim ersten Versuch. Sie öffnete den Stauschlauch, zog Blut auf und entfernte dann die Nadel.
Neben ihr nickte die examinierte Krankenschwester Gloria Leonard anerkennend. Das Klinikpersonal nannte Leonard hinter ihrem Rücken »die Blutdruckmanschette«, was weniger auf Blutdruckmessgeräte als vielmehr auf ihre Art anspielte, alle hier ordentlich ins Schwitzen zu bringen. Ein Nicken von ihr war der Himmel auf Erden.
»War gar nicht schlimm, oder?« Lydia lächelte den alten Mann an.
»Nee.« Der alte Mann lächelte zurück. Es war nicht zu übersehen, dass er hübsche Mädchen mochte, auch wenn sie ihn mit Nadeln piesackten, Fieberthermometer unter seine Zunge stopften oder ihm um fünf Uhr morgens weckten, damit sie ihm seine Medizin geben und seine Bettwäsche wechseln konnten.
Sie tätschelte seine fleckige Hand. »Ich sehe morgen wieder nach Ihnen, Mr. Fisher. In Ordnung?«
»Ach ja? Wollen Sie etwa schon gehen?«
»Ja.«
Er sah erst Schwester Leonard, dann sie an. »Sind Sie sicher, dass Sie Ihnen genug zu tun gibt?«
Lydia lachte. »Oh, ganz sicher sogar. Ja.«
In Wahrheit rieb sich Lydia durch das Studium und die vielen Stunden, die sie im Krankenhaus bei ihrer Lehrmeisterin zubrachte, förmlich auf. Aber es war eine positive Art von Stress. Sie wusste, dass sie gute, sogar exzellente Arbeit leistete, und dass Leonard, ihre Stationsleiterin und Lehrerin, diese Tatsache durchaus zu schätzen wusste.
Endlich. Etwas, worin sie wirklich gut war.
Sie nahm das Stethoskop und den Blutdruckmesser vom Bett und zog das Laken glatt.
»Schlafen Sie gut«, sagte sie. »Kommt Ihre Frau später nochmal vorbei?«
»Klar kommt die.«
»Schön, dann grüßen Sie sie von mir und richten Sie ihr aus, dass ich ihr die Sachen dann morgen mitbringe.«
»Mach ich.«
Sie gingen zurück ins Schwesternzimmer, wo sie noch schnell den Papierkram erledigen wollte, bevor sie Feierabend machte.
»Was für Sachen?«, fragte Schwester Leonard.
»Mrs. Fishers Kirche unterhält eine Altkleidersammlung, und ich hab noch ein paar alte Sweater und Blusen.«
»Ach.«
»Das geht doch in Ordnung, oder?«
»Klar. Ich hab auch noch alte Klamotten. Die bring ich bei Gelegenheit mal mit.«
Lydia verabschiedete sich, zog ihr Sweatshirt über und ging zum Aufzug.
Der heutige Tag war gar nicht mal so schlecht gelaufen. Auf ihrer Station lagen vor allem alte Leute – das Herz, in den meisten Fällen –, und nichts war während ihrer Schicht einer Krisensituation nähergekommen als die bemerkenswerte Wirkung von Mrs. Bragoniers Verdauungsmittel, dessen Resultat in wahrhaft gewaltigem Stuhlgang und Entrüstungsschreien aus ihrem Zimmer bestanden hatte.
Es war Zeit für den Heimweg. Ein schnelles Abendessen und dann ran an die Bücher. Aber zuerst …
In der Notaufnahme arbeitete ein Arzt, der ihr ganz gut gefiel. Ein Internist. Sie hoffte, dass diese Anziehung womöglich auf Gegenseitigkeit beruhte. Sein Name war Kelly. Jim Kelly. Blond und schlank und, wie sie fand, sehr klug.
Sie mochte seine Hände.
Seine Hände versprachen Zärtlichkeit. Und sie legte großen Wert auf Zärtlichkeit.
Sie fuhr mit dem Aufzug in den ersten Stock.
Sie ging über den Korridor an den Behandlungsräumen vorbei und warf einen Blick in jeden einzelnen, aber er war nicht da. Marie Khurana saß im Schwesternzimmer.
»Hast du Kelly gesehen?«
»Du hast ihn knapp verpasst. Er ist um fünf gegangen.«
»Oh.«
Marie grinste. »Hast du da was am Laufen, Liddy?«
»Du meinst so, wie du was mit Daniels am Laufen hast, Marie?«
»Hey, davon dürftest du eigentlich gar nichts wissen.«
»Wovon wissen?«
Sie lachte und ging weiter.
Sie kam an der Aufnahme und an der langen Schlange Patienten vorbei, die auf einen Arzt warteten, und warf ihnen einen flüchtigen Blick zu.
Zur Abwechslung mal nichts wirklich Schlimmes. Keine Schusswunden. Keine
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