Wahnsinn
›wir es nicht nötig haben‹ ergibt nämlich nicht den geringsten Sinn. Ich spreche davon, dass ich ein erfülltes Leben haben will, etwas in meinem Leben, das wirklich mir gehört. Nicht davon, was wir nötig oder nicht nötig haben. Ich will entweder Kinder oder arbeiten gehen.«
»Stellst du mir jetzt ein Ultimatum?«
»Nenn es, wie du willst. Jedenfalls kann ich so nicht mehr weitermachen.«
Sie hielt inne und dann sagte sie ihm, was für sie der eigentliche Kern der Sache war.
»Es ist nicht fair.«
Er sah sie einen Moment über seine Kaffeetasse hinweg an, dann setzte er sie energisch ab. Lydia fuhr zusammen. Kaffee schwappte auf die Untertasse.
»Du kannst mich mal!«
Er stand auf und verließ den Tisch. Sie drehte sich um und sah, wie er dem Kellner seine Kreditkarte reichte und der Kellner sich beeilte, ihn zu bedienen.
Er ging weg und ließ sie sitzen.
Einfach so.
Sie hatte sich offenbar in ihm geirrt. Sie nahm an, dass es für ihn immer einen Ort gab, an dem er sich verkriechen konnte, und wenn es sich dabei um den Harvard Square handelte.
So viel dazu, dachte sie. Sie hatte drei lange Jahre versucht, ihn zu verstehen, dann, mit ihm auszukommen, und schließlich nur noch, unbeschadet davonzukommen und irgendwie ihr eigenes Leben aus der Gruft ihrer unausgefüllten Tage zu exhumieren.
Sie hatten eine Picasso-Zeichnung, klein, aber echt.
Sie hatten Netsuke-Figürchen, einen Steinway-Flügel und zweihundert Jahre alte japanische Kunst.
Jim würde groß Karriere machen. Er hatte gerade erst so richtig angefangen.
Es spielte keine Rolle mehr.
Sie war nicht überrascht, dass ihre Frauengruppe ihr in dieser Hinsicht auch nicht weiterhelfen konnte. Ungeachtet der Gewissheit, dass es sein Fehler gewesen war, nicht ihrer, hatte sie das Gefühl, es wieder mal gründlich vermasselt zu haben.
Hatte sie zu viel verlangt und zu wenig zurückgegeben? Trotz all der vielen Gespräche lief es doch darauf hinaus, dass das, was sie wusste, und das, was sie fühlte, immer noch zwei verschiedene Dinge waren.
Sie trank den Kaffee und aß den Pekannusskuchen und ließ sich dabei alle Zeit der Welt. Das war eine Frage des Stolzes. Dann ging sie an dem Kellner vorbei zur Tür, lächelte ihm zu und nahm sich ein Taxi nach Hause.
Er war nicht da. Auch das überraschte sie jetzt nicht mehr.
Doch sie fand eine Nachricht.
Wenn du die Scheidung willst – die kannst du haben.
Sie fühlte, wie ein Kribbeln ihren Rücken hinunterlief.
Das war verdammt nochmal viel zu einfach.
Augenblick mal.
Sie kannte ihn. Hier war doch etwas im Busch.
Sie ging in ihr gemeinsames Schlafzimmer und durchsuchte seine Kommode und den Kleiderschrank. Es dauerte nicht lange, bis sie eine Nachricht fand, die eine Frau auf dem Rezeptblock eines anderen Arztes hinterlassen hatte, dessen Name ihr unbekannt war. Sie steckte in der Seitentasche seines marineblauen Jacketts.
Unter der Nachricht sah sie ein kleines, rundes freundliches Gesicht und las: Mittwoch halb drei im Copley Sheraton. Zi. 2208. Nach deinem Meeting. Heute war Freitag, es war also vor drei Tagen gewesen. Ja, an diesem Morgen hatte er das marineblaue Jackett angezogen. Da war sie sicher. Sie fragte sich, wie oft er schon derart sorglos gewesen war oder ob er glaubte, dass sie langsam Bescheid wissen sollte.
Wenn du die Scheidung willst – die kannst du haben.
Okay, Jim.
Sie wollte.
Plymouth, New Hampshire ∙ März 1983
Die Sperrstunde war seit fast einer halben Stunde vorbei. Die Kellnerinnen waren schon lange gegangen. Sie hatten für den Jungen, der morgens ausfegte, die Stühle auf die Tische gestellt und die meisten Lampen ausgeschaltet. Er machte die Kasse, während Jake, Arthurs Nachtschicht, sich noch immer um diesen Typen kümmerte. Der Kerl war sturzbetrunken und lag tief über den Tresen gebeugt, so dass Jake eine Tasse Kaffee gratis vor ihn hingestellt hatte. Der Typ schien jedoch dem wässrigen Bodensatz seines Scotch den Vorzug zu geben. Nippte ihn ganz langsam. Beschissener Vollidiot.
»Jake, mach den Abflug. Ich schließe ab.«
»Alles klar, Art. Vielen Dank.«
»Sir? Würden Sie wohl Ihren Kaffee austrinken? Das wäre sehr nett.«
Jake tat gut daran, dem Typen Kaffee einzuflößen, denn wenigstens konnten sie dann sagen, dass sie alles versucht hatten, sollte das Arschloch sein Auto kurz danach um einen Baum wickeln.
Jake war ein guter Mann. Wenn er damals in Boston ein paar mehr Leute von seinem Kaliber gehabt hätte, wäre vielleicht was
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