Wahnsinn
Wohlwollen begegnen, wenn Ihnen eine Gefängnisstrafe droht? Sie riskieren damit, ihn nie wiederzusehen.«
»Passen Sie auf«, sagte Andrea Stone, »ich kann etwas Zeit herausschinden. Lassen Sie mich als Roberts Rechtsbeistand und Verfahrenspflegerin gegen das Gerichtsurteil Berufung einlegen. Dann kann ich ihn in höchstens ein, zwei Tagen in ein Kinderheim geben, und bis dahin …«
»Ein Kinderheim?«
»… und bis dahin kann ich bei Arthur zu Hause alles auf den Kopf stellen und gründlich durchkämmen lassen, um Anhaltspunkte dafür zu finden – notfalls auch zu konstruieren –, damit Robert keinesfalls bei ihm bleiben kann. Sie können einen Privatdetektiv beauftragen, damit der etwas über ihn herausfindet. Wir können das Ganze noch ewig hinauszögern, glauben Sie mir.«
»Sie hat Recht, Lydia. Machen Sie es auf unsere Art. Halten Sie sich an die Regeln.«
»Diese Regeln sind scheiße«, erwiderte Lydia.
Sie erreichte ihr Auto und stocherte mit dem Schlüssel im Türschloss herum. Sie war sich bewusst, dass die beiden ihr dabei zusahen, als hätten sie Angst um sie. Nun, sie selbst hatte ja auch Angst um sich. Und um Robert.
Wenn es sein musste, würde sie abhauen.
Wenn es sein musste, würde sie ebenfalls auf den Strich gehen.
Scheiß auf ihre guten Absichten. Sie standen für die Regeln und die Regeln waren eindeutig beschissen. Nichts weiter als Beschiss.
Aber ein Ass hatte sie noch im Ärmel.
»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht lieber fahren sollte?«, fragte Andrea Stone.
»Mir geht’s gut«, antwortete sie und ließ den Motor an. »Ich fahre jetzt zu Roberts Schule. Ich rufe Sie an.«
Als sie ihn durch die Glasscheibe der Klassenzimmertür an seinem Schulpult sitzen sah, wäre sie beinah in Tränen ausgebrochen. Die Kinder brüteten stumm über einer Klassenarbeit. Rutschten auf ihren Bänken rum. Schlurften mit ihren Schuhen über den Fußboden. Sonst hörte sie nichts. Sie atmete tief durch und trat ein.
Er blickte auf und erkannte sie. Es gelang ihr, ihm zuzulächeln, bevor sie Mrs. Youngjohn ins Ohr flüsterte, was sie wollte. Diese nickte – und gab sich, wie Lydia bemerkte, große Mühe, sich weder Besorgnis noch Neugier anmerken zu lassen. Dann ging Mrs. Youngjohn zu Robert, sprach kurz mit ihm und deutete auf seine Mutter. Er suchte seine Schulbücher zusammen und stand leise auf. Lydia legte ihm eine Hand auf die Schulter und ging mit ihm hinaus.
Ihr war klar, dass er sie gerne gefragt hätte, was denn los sei, sich aber nicht traute – jedenfalls nicht hier. Die hallenden Schritte auf dem verwaisten, sonst stillen Schulkorridor hielten ihn davon ab, drängten ihn stattdessen zunächst ins Freie, als ob es an der frischen Luft leichter für ihn war zu sprechen.
Sie brachte ihn zum Auto.
Unterdessen schien es noch wärmer geworden zu sein. Sie schwitzte. Und sie fühlte sich innerlich leer, als würde Roberts Anwesenheit sie beruhigen, gleichzeitig jedoch auch sämtliche Emotionen ausschalten – bis auf das einfache Gefühl, noch am Leben und bei ihm zu sein.
Sie bemerkte, dass er sie anstarrte.
Sie ließ den Motor an und fuhr los.
»Erzählst du mir jetzt, was los ist oder nicht?«, wollte er wissen. Seine Stimme klang leicht wütend – und ängstlich.
Sie bremste, wandte sich ihm zu und machte den Motor aus.
»Der Richter hat gesagt, dass du zu deinem Vater musst, Robert«, sagte sie.
Sie hatte keine Ahnung, was sie sonst hätte tun sollen, also sagte sie es ihm einfach.
Sie gab sich alle Mühe, nicht zu weinen, und sah, dass es ihm genauso erging. Sie konnte spüren, wie er sich vor Angst und Unsicherheit anspannte.
»Wann? Und für wie lange?«
Er verstand nicht. Noch nie war ihr etwas schwerer gefallen als ihm diese Sache zu erklären.
»Robert, das Gericht hat entschieden, dass du bei ihm wohnen musst.«
Es war, als hätte sie ihn geohrfeigt. Er warf sich rücklings gegen die Beifahrertür, kniete schon halb auf dem Sitz und sah aus, als säße er in der Falle.
»Nein!«
»Robert …«
»Ich will nicht! Keiner kann mich zwingen! Warum hilfst du mir denn nicht?«
Jetzt weinte sie doch. Er hatte Recht. Sie hatte ihm nicht geholfen. Nicht genug. Nicht mal annähernd.
»Ich kann dir nicht helfen, Robert. Keiner kann das. Nicht, wenn du nicht sagst, was er mit dir macht. Nicht, solange du nichts sagst.«
»Ich sag es! Ich schwöre! Ich kann nicht bei ihm wohnen! Ich kann nicht!«
Er war außer sich vor Angst. Er drückte sich zitternd und
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