Wahnsinns Liebe
lebt.«
Schönberg spricht über das, was er jetzt hier am Traunsee zu einem Ende bringen will: sein Streichquartett in fis-moll. Seit einigen Tagen fühlt er sich, als stünde er auf der Bühne als ein Held, denn sie ist angereist, seine neue Schülerin aus Wien. Ihre Blicke erheben ihn auf ein Podest. Und ihr Stöhnen, wenn er sie schließlich am frühen Abend von ihrer angespannten Sehnsucht befreit, klingt für ihn wie aufbrandender Applaus. »Deine Stimme«, hat sie gestern gestöhnt, als er ihre Schenkel spreizte, »ist so … eindringlich«.
Jetzt sitzt sie hier mit den vertrauten Schülern unter den Kastanien, als wäre nichts gewesen. Aber er weiß, was sie denkt, wenn sie ihn ansieht: daß er ihr gehört, ihr, daß sie ihn gestern und vorgestern ganz für sich hatte in ihrem engen Zimmer unterm Dach. Und daß er nach ihr, nur nach ihr verrückt war. Daß sich in ihren Augen nichts spiegelt als er, erregt ihn selbst in dieser Hitze, der alles sonst erliegt.
»Ich fühle Luft von anderem Planeten«, sagt Schönberg langsam. Dieser Blick. Er spürt, wie es flackert in seinem Unterleib. »Das ist die erste Zeile von Georges Gedicht ›Entrückung‹. Als ich sie zum ersten Mal gelesen habe, traf es mich wie eine unentrinnbare Diagnose: Gemeint bin ich. Das ganze Gedicht meint mich. Es führt mich auf eine neue Bahn, in ein neues Universum und sagt mir gleichzeitig, was passiert.
›Ich fühle luft von anderem planeten, /Mir blassen |215| durch das dunkel die gesichter, /Die eben freundlich noch sich zu mir drehten.‹ Ja, sie werden sich von mir abwenden, werden es als unerträglich empfinden, daß in einem Streichquartett gesungen wird, aber ich muß es tun. Ich muß.« Er denkt an ihre Brüste, herausfordernd feste Brüste. Daran zu denken gibt der Stimme Samt, merkt er im Weiterreden. »Ich weiß, daß George mich treffen mußte, um mir die Kraft und die Stärke zu geben … Hören Sie bitte: ›Mich überfährt ein ungestümes wehe, /Im rausch der weihe, /Inbrünstige schreie / In staub geworfner beterinnen flehen …‹ Verstehen Sie, daß es hier um Größeres geht als das, was in Wien für wichtig gehalten wird? Daß es hier um Dimensionen geht, die nur die wenigsten erahnen. Hören Sie noch einmal: ›Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer‚ /Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme …‹«
Dieser George, er wirkt. Sie hat sich so gesetzt, daß sein Blick auf sie fallen muß. Ihre Brüste heben und senken sich, ihre Lippen sind ein Angebot, ihre Lider herabgelassene Jalousien, den Kopf hat sie in den Nacken gelegt. Gut, daß die anderen sie nicht ansehen.
Während er vor seiner schweigenden Schar von Jüngern und einer Jüngerin spricht, würde Schönberg nichts hören, was um ihn her passiert. Selbst wenn einer neben ihm schrie.
Und es schreit eben jetzt einer, allerdings drüben bei der Feramühle und ohne, daß irgendwer aufgeschreckt würde dadurch.
»Wer war das?« schreit Gerstl. »Wer hat das gemacht? Wer kann sie derartig hassen, dieses unschuldige Ding? Gestern noch – wie schön war das, wie du auf ihr gesessen hast, wie du so selbstvergessen vor dich hin geschaukelt hast.«
|216| Mathilde zuckt mit den Achseln. Ihre Augen schauen aus, als wollten sie weinen, aber sie sind trocken. Mit hängenden Armen stehen beide vor dem großen Apfelbaum zwischen dem Haupthaus der Feramühle und dem Gebäude, in dem Gerstl wohnt, an dem statt der Schaukel an langen Seilen nur noch die abgesäbelten Reste der beiden Stricke baumeln. Auf einmal steht Prillinger da, nur die Hosenträger am nackten, rosaroten naßglänzenden Oberkörper. »Ich weiß nicht, wer es war. Aber eine erwachsne Frau schaukelt nicht«, sagt er und dreht wieder ab.
Es war bis jetzt ein Tag gewesen, an dem beide völlig vergessen hatten, wie Schmerz sich anfühlt. Die Zemlinksys hatten Mathildes Kinder übernommen, und die Zeit war geflossen, weich und widerstandslos. Sie hatten ihren Schweiß genossen, als sie glitschig in der letzten ungemähten Wiese lagen, und das Kratzen und Stechen der Gräser. Sie hatten die Menschenleere auf allen Wegen genossen wie eine Parade der Stille zu Ehren ihrer Liebe. Sie hatten sogar die Hitze genossen wie eine Auszeichnung ihres Tages. Rechtzeitig, bevor sie in Sichtweite der Feramühle gekommen waren, hatten sie einander losgelassen, sogar über diese erzwungene Geste der Vorsicht noch glücklich, weil sie die Lust erhöhte auf die Stunde, die ihnen nun noch blieb, die Stunde, in
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