Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
unserer beiden Nachbarhäuser aufgewachsen, Eric Talcott in dem anderen. Mein Vater hat uns siamesische Drillinge genannt. Uns drei verbindet eine lange Geschichte; wir haben zusammen Schnecken auf dem Gehweg mit Salz bestreut, Wasserbomben vom Dach der Grundschule geworfen und die Katze der Sportlehrerin entführt. Als Kinder waren wir ein Triumvirat, als Erwachsene sind wir uns noch immer erstaunlich nahe. Fitz wird sogar auf meiner Hochzeit eine Doppelfunktion erfüllen -als Trauzeuge von Eric und mir.
Von meinem Platz auf dem Boden aus kommt mir Fitz vor wie ein Riese. Er ist fast eins fünfundneunzig groß, und er hat flammend rotes Haar. »Ich brauche einen Kommentar von dir«, sagt er.
Mir war immer klar, daß Fitz mal eine schreibende Tätigkeit ausüben würde, obwohl ich ihn mir eher als Dichter oder Romanautor vorgestellt hatte. Schon damals spielte er mit Sprache wie andere Kinder mit Steinen oder Zweigen. »Denk dir irgendwas aus«, schlage ich vor.
Er lacht. »He, ich arbeite für die New Hampshire Gazette, nicht die New York Times.«
»Entschuldigung ...?«
Wir drehen uns beide um. Holly Gardiners Mutter blickt mich mit einem Ausdruck an, der so voller Worte ist, daß sie sich sekundenlang nicht für eins entscheiden kann. »Danke«, sagt sie schließlich. »Vielen, vielen Dank.«
»Danken Sie Greta«, erwidere ich. »Die hat die ganze Arbeit gemacht.«
Der Frau kommen die Tränen, als ihr die Bedeutung des Augenblicks klar wird. Sie nimmt meine Hand und drückt sie, bevor sie zurück zu den Rettungshelfern geht, die sich um Holly kümmern.
Es gab Momente in meiner Kindheit und Jugend, in denen ich meine Mutter schmerzlich vermißt habe -wenn alle anderen Kinder mit beiden Eltern zum Schulfest kamen, als ich zum ersten Mal meine Periode bekam und mit meinem Vater auf dem Badewannenrand saß, um die Gebrauchsanweisung auf der Tamponverpackung durchzulesen, als Eric und ich uns das erste Mal küßten und ich meinte, mich vor Glück nicht halten zu können.
Jetzt.
Fitz kennt mich wie kaum jemand sonst. Er legt mir einen Arm um die Schultern. »Aber du hast Glück gehabt«, sagt er sanft. »Dein Dad war besser als die meisten anderen Eltern zusammen.«
»Ich weiß«, erwidere ich, als ich Holly Gardiner und ihrer Mutter nachschaue, die Hand in Hand zu ihrem Wagen gehen, wie zwei Edelsteine an einer zarten Halskette, die jeden Augenblick reißen kann.
Am Abend sind Greta und ich die Hauptmeldung in den Fernsehnachrichten. Im ländlichen New Hampshire berichten die Medien eher selten über Bandenkriege und Morde und Serienvergewaltigungen. Statt dessen erfahren wir von abgebrannten Scheunen und feierlichen Krankenhauseröffnungen und von kleinen Heldentaten wie meiner.
Mein Vater und ich stehen in der Küche und machen das Abendessen. »Was ist denn mit Sophie los?« frage ich und spähe stirnrunzelnd ins Wohnzimmer, wo sie zusammengerollt auf dem Teppich liegt.
»Sie ist müde«, sagt mein Vater.
Sie macht hin und wieder ein Schläfchen, wenn ich sie vom Kindergarten abgeholt habe, aber heute, als ich den Sucheinsatz hatte, mußte mein Vater sie bis zum Feierabend mit ins Seniorenzentrum nehmen. Trotzdem, es muß noch etwas anderes mit ihr sein. Als ich nach Hause kam, hat sie nicht wie sonst an der Tür auf mich gewartet, um mir alles Wichtige zu erzählen: Wer im Kindergarten am höchsten geschaukelt hat und ob es zum dritten Mal hintereinander Möhren und Käsewürfel gab.
»Hast du ihre Temperatur gemessen?« frage ich.
»Angenehm warm wie immer.« Er grinst mich an, als ich die Augen verdrehe. »Beim Nachtisch ist sie wieder die alte«, prophezeit er. »Kinder kommen schnell wieder auf die Beine.«
Mit seinen fast sechzig Jahren sieht mein Vater noch gut aus - alterslos, fast, mit graumeliertem Haar und einer durchtrainierten Figur. Obwohl es reichlich Frauen gab, die sich um einen Mann wie Andrew Hopkins gerissen hätten, hat er sich nur ganz selten mal auf eine kurze Beziehung eingelassen, und er hat nie wieder geheiratet. Er sagte immer, im Leben gehe es für einen Jungen darum, das perfekte Mädchen zu finden, und er habe nun mal das Glück gehabt, daß ihm sein Mädchen in einem Kreißsaal überreicht worden war.
»Wann kommt Eric?« fragt er, während er Sahne zu den zerstoßenen Tomaten gibt. »Das Essen ist gleich verkocht.«
Eric wollte schon vor einer halben Stunde hier sein, aber er hat nicht angerufen, daß er sich verspätet, und er meldet sich nicht auf seinem Handy.
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