Wait for You
unternahmen nichts dagegen, genauso wenig wie die Angestellte der Schule.
Also hatten mein Handgelenk und das Glas aus dem Bilderrahmen, in dem das Bild von mir und meiner besten Freundin steckte – desselben Mädchens, das mich genau an diesem Tag in der vollen Schulhalle Flittchen genannt hatte –, nähere Bekanntschaft miteinander geschlossen.
Meine Eltern hatten mich schon kaum noch ansehen können, bevor ich mir die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Aber danach? Mom war ausgetickt. Zum ersten Mal in unendlich langer Zeit war sie vollkommen ausgetickt.
Sie war in mein Privatzimmer gestürmt, Dad war ihr gefolgt. Ihr harter Blick huschte von meinem Gesicht zu meinem verbundenen Handgelenk.
Ein Ausdruck der Panik flog über ihr zu perfektes Gesicht, und ich hoffte schon für einen Moment, dass sie mich endlich in die Arme nehmen würde und mir sagen, dass alles wieder gut werden würde; dass wir das zusammen durchstehen würden.
Doch die Panik war in Enttäuschung umgeschlagen, dann in Selbstmitleid und schließlich in Wut.
»Wie kannst du es wagen, dich und deine Familie so zu beschämen, Avery? Was soll ich denn den Leuten erzählen, wenn sie davon erfahren?«, hatte Mom mit zitternder Stimme gesagt, während sie sich darum bemühte, im Krankenhauszimmer ruhig zu sprechen. Doch dann hatte sie die Kontrolle verloren, und die nächsten Worte waren nur noch ein Kreischen. »Nach allem, was passiert ist, gehst du auch noch hin und tust das? Was stimmt nicht mit dir, Avery? Was in Gottes Namen stimmt nicht mit dir?«
Die Krankenschwestern hatten Mom aus dem Zimmer gezerrt.
Seltsamerweise erinnerte ich mich genau an diesen kurzen Ausdruck der Panik auf ihrem Gesicht und dass ich kurzzeitig und fälschlicherweise geglaubt hatte, er sei ein Zeichen dafür, dass sie sich Sorgen um mich machte.
Cam hatte einen ganz ähnlichen Gesichtsausdruck gezeigt, und ich wünschte mir einfach nur, jemand anderes zu sein. Denn ich wusste genau, dass dieser Ausdruck sich irgendwann zu etwas anderem verwandeln würde – in Enttäuschung, Mitleid und Wut.
Und von Cam könnte ich das einfach nicht ertragen.
Ich hätte alles getan, um das zu vermeiden, auch wenn es bedeutete, drastische Schritte einzuleiten. Irgendwann zwischen Dienstagabend und Mittwochmittag war ich zu einer Entscheidung über den weiteren Verlauf meines Lebens gekommen.
Diese… Sache mit Cam war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Konnten ein Mann und eine Frau, die sich attraktiv fanden, wirklich befreundet sein? In meinen Augen eher nicht. Das musste zu Komplikationen führen. Entweder sie folgten ihren Gefühlen oder sie mussten sich voneinander fernhalten. Einige heiße Sekunden lang hatten wir versucht, unseren Gefühlen zu folgen. Wir hatten uns ein paarmal geküsst. Das war alles. Und um ehrlich zu sein, hätte es auch nicht weiter gehen können.
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich weiter hätte gehen können. Nun, inzwischen glaubte ich es eher nicht mehr. Cam hätte sich irgendwann jemand Neues gesucht, und ich wäre mit vollkommen vernichtetem Herzen zurückgeblieben. Nicht gebrochen, sondern vollkommen zerstört, weil Cam… er war jemand, den man richtig lieben konnte. Und das durfte ich nicht geschehen lassen.
Vielleicht ist es schon passiert , flüsterte eine bösartige, hinterhältige, schreckliche Stimme in meinem Kopf.
Also ging ich Mittwochmittag zu meinem Unibetreuer und tischte ihm die Ausrede auf, dass mir die Arbeit in den Kursen zu viel würde. Der letzte mögliche Tag für den Ausstieg aus einem Kurs war Ende Oktober gewesen, also müsste ich Astronomie als durchgefallen werten lassen, wenn ich den Kurs schmiss. Und ein Kurs mit Sechs konnte mir total die Durchschnittsnote versauen. Aber die Wahrheit lautete, dass ich in meinen anderen Kursen gut genug war, dass es eigentlich keine große Rolle spielte.
Jetzt musste ich eine Entscheidung treffen. Mich Cam stellen und mit dem unausweichlich folgenden gebrochenen Herzen umgehen oder in Astronomie durchfallen.
Ich schmiss den Kurs.
Und als ich das Büro meines Betreuers verließ, wusste ich, dass ich eigentlich gerade keine Entscheidung getroffen hatte. Stattdessen rannte ich weg. Und war es nicht genau das, worin ich so gut war? Weglaufen?
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Am nächsten Wochenende versuchten Brit und Jacob einzugreifen. Die beiden tauchten zusammen vor meiner Wohnung auf. Ich war davon überzeugt, dass sie die Tür eingetreten hätten, hätte ich sie nicht reingelassen –
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