Wald aus Glas: Roman (German Edition)
würde sie ihr erzählen, dass sie friere und dass ihr die Matratze zu hart sei. Die Trekking-Stiefel sahen schwer aus, dabei waren sie leicht und bequem. Um sie einzulaufen, hatte Roberta sie so oft wie möglich getragen, natürlich nur heimlich, wenn niemand sie sah, jetzt saßen sie wie Hausschuhe. Im Radiator hinter ihr gluckste Wasser, vielleicht, weil sie ihnganz heruntergedreht hatte. Sie lag auf dem Rücken und sog mit geblähten Nasenflügeln die kalte Abendluft ein, die durch die Tür strömte. Wie das Pferd meiner Kindheit, dachte sie, das die Nüstern blähte und schnodderte, wenn ich es striegelte und ihm mit leiser Stimme erzählte, was mich beschäftigte. Gott, was waren seine Nüstern weich, weich wie aschefarbener Samt, und was gäbe ich dafür, sie noch ein einziges Mal berühren zu dürfen.
Nach Mitternacht war es im Altenheim endlich still geworden, und Roberta konnte sich in die Wiese vor ihrem Zimmer legen. Es war die vierte Nacht, die sie im Freien verbrachte, im Schlafsack auf der Campingmatte, im ungemähten Gras. Gefroren hatte sie nur in der ersten Nacht. Der Sprühregen, der in der zweiten Nacht niedergegangen war, hatte sie nicht gestört, er hatte ihr gefallen, weil er ihr das Gefühl gab, der Natur zu trotzen und bereit zu sein für ihre Reise.
Im Zimmer der Nachtschwester am Ende des Flures brannte Licht, sonst waren alle Fenster des Hauses dunkel. Über dem Wald war der Himmel schwärzer als über dem See, eine Weile lang bellte ein Hund, weit entfernt auf einem der Höfe am Lindenberg am anderen Ufer. Das Gras war weich und stand so hoch, dass sie darin fast verschwand; es roch nach einer Welt ohne Regeln, ohne Vorschriften, nach dem Gras einer Bergwiese, weit entfernt von den Menschen. Wenn sie sich früher hingelegt hatte, war sie sofort eingeschlafen; heute legte sie sich hin und geriet sofort ins Grübeln. Früher! Früher hatte sie Leute verachtet, die immer nur von der Vergangenheit redeten.
Später hörte sie eine Schleiereule, sie schien durch dieNacht zu fliegen, während sie ihre Rufe ausstieß, einschläfernd regelmäßig, einmal nah hinter ihr, dann wieder drüben am Waldrand. Oder war es das heisere Krächzen von Krähen, das ihre ruhigen Atemzüge begleitete, während sie sich mit beiden Händen am obersten Brett des Zaunes festhielt, aufgewärmt vom Sommertag? Roberta ging in die Knie und sprang auf den Zaun, der sacht schaukelte, bis sie ruhig saß. Sie durfte das Brett nicht loslassen, das wusste sie, weil sie schon einmal vom Zaun gestürzt war. Sie saß im Schatten, denn die Sonne wurde vom hellblauen Elternhaus verdeckt. Hinter ihr ächzten die Pfähle, zwischen denen die Wäscheleine gespannt war; Wind griff in die Bettlaken, blähte sie zu Segeln. Schau nur, Mutter, schau, der Sommer dauert ewig! Da saß sie, auf dem Zaun, auf ihrem Thron, und rieb die nackten Fersen aneinander, während sie auf Michael wartete, jung und doch am Abend vor dem Tod, weil geheilt von der kindlichen Anmaßung, das Leben stehe einem zu, stehe einem zu für immer, seit sie ihre Mutter Hertha tot im Waschhäuschen gefunden hatte. Die Arme ausgestreckt, als suche sie nach Halt, die Stirn blutig geschlagen beim Sturz gegen den Waschtrog aus Stein, lag die Mutter in der Wäsche, die sie hatte aufhängen wollen. Auch ihre zwei Nussbäume standen im Schatten, nur die Äste ihrer Kronen reichten in die Sonne hinauf, dort saßen sie, schwarz und reglos, die Krähen, die das Mädchen auf dem Zaun verhöhnten.
4
Ayfer erwachte vor dem Fiepen des Weckers, wie jeden Morgen, seit sie in der Türkei war. Sie öffnete die Augen, auf einen Schlag hellwach, und schaltete den Alarm aus. Die Sonne machte die Wand, an der ihr Bett stand, zur gleißenden Tafel, auf der zitternde Lichtkringel aufschienen. In der Schweiz war sie morgens fast nicht aus dem Bett gekommen; seit sie in Sile war, stand sie auf, sobald sie erwachte, weil sie sowieso nur ins Grübeln geriet, wenn sie liegen blieb. Es war 5 Uhr 30. Ich stehe früher auf als mein Vater, als er noch Arbeit hatte, dachte sie ohne Stolz, und nicht einmal das würde ihm gefallen.
Sie trat an die Tür und legte ihr Ohr dagegen; in den ersten Tagen war sie auf dem Weg zum Bad am Ende des langen Flures ihrem Onkel oder einem der Zimmermädchen begegnet, das frische Bettwäsche aus der Wäschekammer neben dem Bad holte. Ayfer hatte sich angewöhnt, nie barfuß durch den Flur zu gehen, weil sie sich vor dem Teppich ekelte, der beim Treppenabsatz
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