Wald aus Glas: Roman (German Edition)
und blieb auf der Schwelle stehen. Sie sah in den dunklen Raum hinein, aus dem sie die Kälte traf wie etwas, das sich anfassen lässt, darauf gefasst, etwas Gefährliches sei erwacht, das jetzt, da die Tür offen war, aufstand und auf sie zutorkelte. Die Neonröhren an der Decke flackerten auf, erloschen und flackerten von neuem auf. Die Regale mit den aufeinandergestapelten Dosen, Behältern, trommelgroßen Kübeln und PVC-Kisten schienen erst nach kurzem Zögern und mit einem Ruck in ihre Form zu finden. Der Betonboden knisterte, als Ayfer die Gefrierkammer betrat. Sie stellte sich vor, sie wage sich auf eine Eisfläche mitten im finsteren Wald, den eigenen Atem als Wolke vor dem zusammengepressten Mund, bereit, dem Bösen die Stirn zu bieten und es Schritt um Schritt nach hinten zu drängen, bis es schließlich mit dem Rücken an der Wand stand und sie um Gnade anflehte.
5
Roberta öffnete die Augen, erstaunt, nicht auf dem Bretterzaun zu sitzen, der ihr Land von Steinkoglers Grund abgrenzte. Ein Schwarm Krähen zog über ihr vorbei, der Morgen dämmerte; sie hatte tief geschlafen und von früher geträumt, wie so oft in letzter Zeit. Die Knöchel der linken Hand pochten, ihr Rücken war steif; es gelang ihr nur mit Mühe, die Knie zu beugen und die Beine anzuziehen. Sie blieb liegen, bis es nicht mehr schmerzte, Zehen und Finger zu bewegen, dann kroch sie aus dem Schlafsack und stand ächzend auf. Sie spürte Druck auf der Blase; als sie den Kopf neigte, knackten ihre Nackenwirbel. Es wurde rasch heller, sie musste sich beeilen, um unbemerkt ins Haus zu kommen. Nicht nur Humbel stand früh auf, auch die meisten anderen Bewohner des Altenheimes waren auf den Beinen, bevor das Frühstück serviert wurde. Den Schlafsack unter den Arm geknäuelt, ging sie so schnell wie möglich auf das Haus zu, die Campingmatte hinter sich herziehend. Dass sie eine Schleifspur auf dem feuchten Gras hinterließ, sah sie erst, als sie die Glastür zu ihrem Zimmer öffnete und sich umdrehte. Der Einzige, dem die Spur vielleicht auffallen würde, war Flury, der wie ein Aufseher durch die Korridore schritt und sich in jedes Gespräch einmischte, wobei sein Vogelköpfchen mit blitzenden Brillengläsern vor- und zurückstieß. Alle anderen waren blind für nahezu alles, was sie nicht direkt betraf.
Sie öffnete den Verschluss der Campingmatte mit den Zähnen und drückte die Luft heraus; das furzende Geräusch brachte sie wie jedes Mal zum Lachen. Danach rollte sie die Matte und den Schlafsack zusammen, schob die beiden kompaktenRollen in ihre Nylonhüllen und versteckte sie im Fuß des Kleiderschrankes unter der Wolldecke, auf der ihr Hund geschlafen hatte. Die Decke roch immer noch nach Prinz, auch seine schwarzen und weißen Haare hatte sie nie ausgebürstet. Sie drückte die Schranktür zu, zog sich aus und stieg in die Badewanne, um zu duschen; bevor sie das Wasser aufdrehte, fiel ihr ein, dass es gescheiter war, sich daran zu gewöhnen, nicht duschen zu können. Sie würde nicht nur im Freien übernachten, sie würde auch tagelang auf warmes Wasser verzichten müssen. Sie trat nackt aus dem Bad und fing an, vor dem Bett Kniebeugen zu machen, eine nach der anderen, langsam, aber unermüdlich. Die anderen dürfen nichts merken, dachte sie, gar nichts, und darum werde ich mich später an den Frühstückstisch setzen und die sein, die sie kennen: eine alte Frau, die man gegen ihren Wunsch ins Altenheim gebracht hat und die sich nicht länger wehren will. Eine alte Frau, die aufgegeben hat, genau wie die anderen hier auch.
Im Esssaal war Roberta wie jeden Morgen erstaunt, wie lebhaft es dort beim Frühstück zuging. Die Frauen und Männer redeten unerbittlich laut durcheinander, ohne sich um sie zu kümmern, als sie sich auf den letzten freien Stuhl an ihrem Tisch setzte. Das Frühstück hatte gerade begonnen, trotzdem liefen schon Kaffeeflecken kreuz und quer über das Tischtuch; das Brotkörbchen war bis auf eine Scheibe Weißbrot leer, das Buttertöpfchen mit Marmelade verschmiert. Das Stimmengesumm, das den Saal füllte, klang beinahe fröhlich, dachte Roberta, wie Schulkinder, die ausgelassen sind ohne die Lehrer, die sie beaufsichtigen. Oder wie alte Menschen, die sich freuen, die Nacht überlebt und einen weiteren Taggeschenkt bekommen zu haben. Mittags und abends war es gespenstisch still im Essaal. Dann redete kaum jemand. Statt gescherzt wurde geschimpft, was man hörte, waren Husten, Schniefen und Schmatzen und das müde
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